Zwischen Hammelsprung und Karlsruhe

In diesem Blog habe ich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass der Parlamentarismus in Deutschland nicht mehr als eine Posse ist. Der jämmerliche Zustand der Nationalversammlung, wahlweise auch Volksvertretung genannt, ist aber nicht erst seit dem Amtsantritt Angela Merkels virulent, sondern bereits zu jener Zeit offen zu Tage getreten, als Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder das Parlament mit der Begründung auflösen ließ, keine eigenen Mehrheiten für die begonnene Reformpolitik mehr organisieren zu können.

Nachdem Bundespräsident a.D. Horst Köhler den deutschen Bundestag am 21. Juli 2005 auflöste und Neuwahlen anordnete, folgten aber noch Parlamentsdebatten, in denen die rot-grüne Bundesregierung ohne große Auseinandersetzung Beschlüsse fassen konnte, unter anderem die Ausweitung des Afghanistan-Mandates am 28. September 2005 – also rund zehn Tage nach der vorgezogenen Bundestagswahl. Die Sondersitzung des Parlamentes in alter Zusammensetzung war notwendig geworden, weil das Mandat für den Einsatz am Hindukusch am 13. Oktober 2005 – also eine Woche vor der konstituierenden Sitzung des neugewählten Parlaments - ausgelaufen wäre.  

Die fortwährende Präsenz der Bundeswehr wurde damals noch mit der Lüge begründet, keinen Kriegseinsatz, sondern eine Friedensmission durchzuführen. Gleichzeitig setzen sowohl die bereits abgewählte Schröder-Regierung wie auch die damalige Opposition aus Union und FDP auf ein beschleunigtes Verfahren ohne Bundestagsdebatte, um größere Verwirrungen in der Öffentlichkeit zu vermeiden. 

Warum erzähle ich das? Weil es in einem Parlament um Mehrheiten geht und um die Aufgabe der Regierung, diese nach einem Verfahren, das man Debatte nennt, zu organisieren. Damals im Jahre 2005 zeichnete sich schon ab, welche Funktion die jeweils amtierende Exekutive dem Parlament künftig zugestehen wollte. Die ganz große Koalition, die sich bereits im Vermittlungsausschuss zum Thema Agenda 2010 hinter mehr oder weniger verschlossenen Türen freundschaftlich und einig zusammenfand, sollte nun auch im deutschen Bundestag beim sturen Abnicken der Regierungsvorlagen ihre Fortsetzung finden.

Die neben der großen Koalition ebenfalls vorhandene Mehrheit im 16. deutschen Bundestag für eine Politik, die die SPD in ihren Wahl- und Parteiprogrammen immer wieder ankündigte, blieb jedoch ungenutzt. Die SPD stand lieber treu als Juniorpartner an der Seite der Union und erteilte beispielsweise eigenen Vorlagen zum Mindestlohn eine Abfuhr, nur weil sie die Linkspartei taktisch geschickt ins Plenum einbrachte. Gleichzeitig warf die SPD als Partei mit einem Programm jener sich im Gründungsprozess befindlichen Linken vor, keines zu haben. Doch was nützt auch ein Programm, wenn man es gar nicht ernst nimmt, sondern in Wirklichkeit mit dem konform geht, was sich gegen die Mehrheit der Bevölkerung richtet.

Unter Angela Merkel ist das Parlament dann mit dem Vermerk “alternativlos” und der konsequenten Einführung der marktkonformen Demokratie an den Rand des Geschehens gedrängt worden. Doch auch hier hatte die SPD, mit ihrem Finanzminister Steinbrück – auch bekannt als best Krisenmanager ever – ihren Anteil, indem sie ein Ermächtigungsgesetz nach dem anderen für die schwächelnde Finanzindustrie durchpeitschte und später noch die verharmlosenden Vokabeln Rettungsschirm und Krisenmechanismus erfand. Doch was sollte gerettet werden? Nicht der Parlamentarismus, sondern der Euro, an dem alles, letztlich auch die bis zur Unkenntlichkeit deformierte Demokratie, irgendwie herumbaumelt.

Was war nun am Hammelsprung um das Betreuungsgeld und andere Gesetze so besonders? Hat das Parlament plötzlich seine Krallen gezeigt? Mitnichten. Wenn man weiß, dass es interfraktionelle Vereinbarungen über den Proporz bei Abstimmungen gibt, sieht die Sache anders aus. Falls nämlich in den Regierungsfraktionen Mitglieder fehlen, entsendet die Opposition immer nur soviel Abgeordnete wie nötig sind, um die Mehrheitsverhältnisse bei vollem Haus widerzuspiegeln. Das nennt man dann Geschäftsordnung oder parlamentarische Fairness. Jedoch hätte die ach so unfaire Opposition bei der Abstimmung über das Betreuungsgeld auch ein paar mehr eigene Mitglieder mobilisieren können, um eine überraschende Mehrheit gegen das Vorhaben der Bundesregierung zu organisieren.

Das tat sie aber nicht, weil die Feststellung der Beschlussunfähigkeit keiner der im Bundestag vertretenen Parteien einen größeren Schaden zufügt – das Verfahren über das Betreuungsgeld ist ja bloß verschoben –, sondern ausschließlich dem Parlament. Und das kann seine abermalige Beschädigung durch seine Mitglieder offenbar vertragen, wohingegen ein Verlust der Gesichter auf Seiten der Fraktionen hüben wie drüben unbedingt vermieden werden muss.

Wieso sollte das Theater eigentlich nicht abgesprochen gewesen sein? Unterm Strich hat man doch Zeit gewonnen – also das, was Bundeskanzlerin Merkel und die ihr ergebenen Fraktionen seit Jahren als politischen Erfolg verkaufen!


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