Zwei auf einen Streich: Mal kurz 38 Kilometer

Von Erichkimmich @Erich_Kimmich

Montag 1. Juni 2015. Von Tramayes (480 m) über Ouroux und den Mont Saint Rigaud (1009 m) bis nach Propières (548 m).

In Tramayes im „Le Maronnier“ gibt es das Frühstück. Christa ist schon fast fertig als ich erst beginne. Entsprechend früh zieht sie von dannen. Ich starte für meine Verhältnisse recht früh gegen 8:45 Uhr. Die Landschaft ist hügelig, ein wenig wie in Schottland: hellgrüne Wiesen, dunkelgrüne Hecken, weite Blicke.

  

Hier stehen Kühe auf der Weide, dort ist ein Teich neben einem ausgedehnten Ponyhof, in dem Frösche extrem lautstark quaken. Der Camino möchte auf dem Bergrücken bleiben und nimmt deshalb einen zipfelartigen Umweg über Cenves. Hier dreht sich alles um Landwirtschaft und Ziegenhaltung. Sogar ein Maison du fromage gibt es. Schon sind die ersten zwei Wanderstunden vergangen. Hinter Cenves führt der Weg durch ein schattiges Tälchen steil aufwärts.

  

  

Der Himmel ist heute bedeckt. Dunkle Wolken halten die UV-Strahlen ab.  Das ist ein brauchbares Wetter! Dennoch reicht der Blick weit ins Land. Ganz da hinten bewundere ich ein ausladendes Bergmassiv, auf dessen höchster Stelle ein Turm in den Himmel ragt. Da werde ich morgen vorbei wandern, denke ich mir. Das muss der Mont St-Rigaud sein.

Auf den Hochebenen leuchten gelbe Ginster-Flächen ins Land. Der Weg taucht in den grünen Tunnel des Laubwaldes ab. Ein toller Ausblick auf das kleine Dörfchen da vorne! Rote Lichtnelken blühen, Spitzwegerich reckt seine filigranen Blüten zur Sonne. Rundliche Mistkäfer krabbeln behäbig über den Waldboden.

  

Wieder ein Froschteich: welch ein Konzert! Kaum nähert sich der Wanderer herrscht verdächtige Stille, ab und zu durch ein Platschen unterbrochen, wenn einer der Lurche sich vom Rand ins tiefere Wasser stürzt. Irgendwo im Wald setze ich mich auf einen Baumstumpf zur Rast. Sitzbänke sind Raritäten!

Dann erreiche ich – absteigend ins Tal der Grosne – das Dörfchen Saint-Jacques-des-Arrêts. In der alten Kirche sind moderne Fresken des Künstlers Jean Fusaro. Ein Wegweiser meldet: Restaurant. In der Gemeindeherberge, die am Rande eines Zeltplatzes und einer Ferienhäuschen-Anlage liegt, gibt es was zu essen. Ich bin außer mir vor Begeisterung! „Panaché“ ruft mein Innerstes! „Essen“ sagt die Vernunft. Also frage ich, was es gibt und die Wirtin bietet ihrem einzigen Gast einen bunten Salat an. Klar ist das okay! Schinken, Eier und Tomaten tummeln sich mit vielen Kartoffelstücken auf den grünen Salatblättern. Die Vinaigrette steht frisch angerührt daneben. Noch ein Panach’! Das tut gut!

  

Weiter gehts abwärts ins Tal. Die Kirche von St-Mamert schaut zu mir hinunter ins Tal. Ein riesiges Transparent an einer Scheune trägt die Aufschrift: „Methanisation près des maisons: non!“ Schon liegt der kleine Weiler Ouroux (325 Einwohner, 450 m) vor mir. Die alte Kirche stammt aus dem 12. Jahrhundert! In einem Vorgarten hat jemand ein scherzhaftes Straßenschild angebracht: „Rue de la soif“ (Straße des Durstes). Passend zur Jahreszeit und den verschwitzten Pilgern, die hier vorbei gehen.
Es ist etwa 14:30 Uhr als ich das heutige Tagesziel, die Herberge in Gros Bois (500 m) unterhalb des Weges sehe. Soll es das schon gewesen sein heute? Wenn ich jetzt weiter wandere: wo werde ich dann heute Abend schlafen? Wie weit Christa heute wohl gewandert ist?

Ich wandere einfach weiter. Ich will jetzt nicht einfach anhalten. Noch ist Schwung in mir…

Der Weg geht nun wieder aufwärts. Ich bin den Monts du Haut Beaujolais. Diese Gegend hat Charme und verdammt viel Natur zu bieten! Am Croix de Cuisset mache ich kurze Rast.

  

Unter den schwarzen Wolken hat sich eine schwüle Hitze angestaut. Anstiege und herrliche, weite Ausblicke wechseln sich ab. Die Wolken verziehen sich. Gegen 16 Uhr habe ich endlich den Col de Crie (622 m) erreicht. Hier treffen sich alle Straßen der Region in einem großen Kreisverkehr. Dahinter ist ein Informationszentrum, das montags aber geschlossen hat. Ich versuche es an einem der Büros und werde zu einem anderen Teil des Komplexes geschickt. Es ist also irgendwie doch offen, jedenfalls die Touristeninformation. Eine freundliche Mitarbeiterin muss erstmal ein langes Telefonat beenden, bevor sie mir endlich behilflich sein kann. Sie ruft in einem Hotel in Propières an: Es sei alles belegt, leider. Dann ruft sie diverse Chambres d’hôtes an – und siehe da: eines hat noch Plätze frei. Es heißt La Musardière. Den Weg dorthin beschreibt sie mir ausführlich. Es liegt einige Kilometer nördlich, abseits der Wanderstrecke. Sie sagt am Telefon: „Also, der Pilger kommt dann in vier Stunden bei Ihnen an.“ Sie kennt also offenbar die Entfernungen ganz gut. Etwas beklommen stelle ich fest; Da muss ich ja noch bis 20 Uhr wandern… Nun gut, ich hab es ja so gewollt. Am Wasserhahn fülle ich schnell noch die Flasche mit Wasser auf und weiter gehts.

Nach einigen angenehm flachen Kilometern  kommen starke Steigungen ins Spiel. Lang gezogene Waldwege erscheinen mir geradezu endlos. Ich schwächle zusehends, werde immer langsamer und mache diverse Pausen. Die letzten Cranberries und Mandeln fallen dem Hunger zum Opfer. Ein Energieriegel hinterher. Weiter. Weiter. Wald und Aussicht wechseln sich ab. Geröllartige Wege, alles andere als bequem zu gehen.

     

Endlich bin ich auf dem geteerten Fahrweg und erreiche die sogenannte Pilger-Quelle am Aufstieg zum Mont St-Rigaud. Hier stelle ich meinen Rucksack ab. Er muss nicht bis hinauf zum Gipfel. Erstmal trinke ich begierig das erfrischende Quellwasser. Ein wahres Elixier! Dem heilsamen Wasser werden viele Wunder zugeschrieben. Zahlreiche Holzkreuze oberhalb der Quellfassung künden vom Dank der Geheilten. Etwa einen Kilometer steige ich nun weiter aufwärts und erreiche den Aussichtsturm auf dem Gipfel des Mont St-Rigaud auf 1009 Meter Höhe. Die Sonne steht schon weit im Westen. Der Rundblick ist eigentlich ausgezeichnet, jedoch von zahlreichen hochgewachsenen Bäumen eingeschränkt. Der Fotoapparat klickt sich durch einen 360°-Panorama-Rundblick.

Die große Panoramatafel enthält Entfernungsangaben zu Orten auf der ganzen Welt: bis Hanoi sind es 9.159 km, bis Peking 8.290 km, Nach Moskau wären es 2.527 und bis nach Wien immerhin 923 km. Bis zu meinem Gästezimmer dürften es vielleicht noch sechs Kilometer sein…

32 km liegen hinter mir, die Uhr zeigt 19:17 Uhr und ich bin auf dem höchsten Gipfel dieses Jakobswegstückes. Ich kann nur schwer abschätzen, wie lange ich noch gehen muss bis zum Quartier. Ich verlasse den Turm und wandere zurück hinunter zur Quelle. Mein Rucksack hat brav auf mich gewartet. Noch einmal ganz viel trinken und alle Flaschen auffüllen. Heilwasser-Export sozusagen.  „Weiter! Weiter!“ feuere ich mich an. Immerhin geht es jetzt fast nur noch abwärts. Immer wieder schaue ich auf das Navi. Gegen 20 Uhr bin ich auf die 900-Meter-Grenze gesunken. Doch das Ziel ist noch längst nicht in der Nähe. Die Abendsonne blendet mich. Es ist ein stimmungsvoller Abend mit klaren, warmen Farben. Ich bin froh, jetzt hier zu sein.

Strapaze für die Knie. Es geht weiter rasant abwärts. Um 20:20 Uhr zeigt das Navigationsgerät schon 713 Höhenmeter. Kurz darauf verlasse ich den Jakobsweg auf Höhe 574 m und steige weiter hinab. Ich denke an Helmut und seine Knieschmerzen und bin dankbar dafür, dass mir diese langen Abstiege keine Probleme machen!

  

  

Puh, geschafft! Ein letzter Blick aufs Navi: Es ist 20:48 Uhr und ich bin mit 38,6 km auf 548 Meter Höhe angekommen. Ich habe zwei Tagesetappen auf einmal geschafft! La Musardière war tatsächlich das letzte Haus an einem langen Sträßchen Richtung Nordwesten. Vor anderthalb Stunden war ich noch über der 1000-m-Grenze! Eigentlich bin ich mit mir und meinem Tempo zufrieden. Geneviève Diot, die Gastgeberin, ist leicht gereizt; sie hat offenbar schon eine ganze Weile mit dem Abendessen gewartet. „Ich habe Hunger,“ sagt sie ein wenig vorwurfsvoll. Ich absolviere eine Schnell-Dusche und kann mich gleich dem guten Abendessen widmen: Die wunderbare Karottensuppe gibt wieder Kraft. Ich brauche noch eine Spur mehr Salz – alles beim Schwitzen verloren! Es gibt Linsen und Kotelett als Hauptgericht. Und schließlich gibt es einen sehr vielfältigen Nachtisch mit Früchten und Eis.

Wir reden über den Jakobsweg und das Pilgern. Sie selbst hat schon längere Strecken pilgernd zurückgelegt und empfiehlt mir zwei Bücher. Eines ist ein wundervoller Bildband, herausgegeben von einem französischen Verlag. Das andere befasst sich mit der Geschichte des Pilgerns.
Gegen Mitternacht gehe ich ins Bett und schlafe wie ein Stein.

38,9 km 3,03 km/h 12:07  1.408 hm 1.326 hm 240,3 km.

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