Zuversicht an Sterbebetten

Wie wäre das eigentlich, wenn ich heute herausfände, dass man aus der toten Materie eines menschlichen Organismus', einen sehr günstigen Kraftstoff mit hohen Energie- und niedrigen Verbrauchswerten destillieren könnte? Hypothetisch! Man stelle sich nur mal vor, im menschlichen Leichnam läge der Schlüssel zu einer umweltfreundlichen Lösung der Mobilitätsfrage. Vielleicht ergäbe sich gar ein Treibstoff, der keinerlei Verbrennung benötigte. Wie das genau funktionieren soll, wie ich an diese obskure Substanz gelangte, kann ich nicht beantworten. Jedoch könnte ich literarische Stilmittel anwenden, die meine Ahnungslosigkeit übertünchten. Ich könnte von Destillation, sich wandelnde Aggregatszuständen, wechselseitigem Verdampfen, Sieden und Köcheln berichten, von Konzentrationen und Kondensationen, wahlweise auf Verdunstung und Sublimation hinweisen und das alles mit fachmännischen Adjektiven zieren. Letztlich gelänge es mir, den Leser von meinem profunden Wissen zu überzeugen. Doch einerlei, darum geht es jetzt nicht. Ich hätte es also entwickelt - irgendwie, mit Phantasies Hilfe. Was geschähe dann? Wielange würden uns moralische Bedenken behindern; wann würden erste Stimmen, erst zögerlich im fortschrittlichen Feuilleton, später als Parole für die Masse, die Nutzung dieser Energiequelle fordern?

Ich stelle mir vor, dass es nicht besonders lange dauern würde, bis man kreuzritterlich ins Gefecht zöge. Die Kostenersparnis wäre Argument. Doppelte Kostenersparnis, denn wir könnten weiterhin kostengünstig individualverkehren und sparten uns auch noch Friedhofskosten. Statt Tiger im Tank, Opa im Tank! Eine Win-win-Situation, wie man das so bestechend im Wirtschaftssprech bezeichnet. Umweltschonend wäre es ohnehin - und man könnte aufhören, die Erdölreserven zu plündern. Rechte sagten, man könnte sich endlich aus der Abhängigkeit von arabischen und afrikanischen Ländern lösen - Linke führten visionär an, es sei endlich ein Weg offen, arabische und afrikanische Tagelöhner nicht mehr auszubeuten. Immerhin würde man nur organische Restmasse, die sonst verbuddelt würde, nutzvoll einsetzen - darüber wäre man sich rechts wie links einig. Es sei ökonomisch sinnvoll - und moralisch auch, denn gute Ökonomie, das wisse schließlich jeder, der über einige Gramm Hirn verfüge, sei auch gute Moral.
Die Kirchen sähen das anders. Jedenfalls die katholische - phasenweise, bis auch sie sich am Zeitgeist schliffe. Die evangelischen Kirchen in Deutschland mahnten zwar, deuteten aber auch von Anbeginn der Debatte auf die Chancen hin. Gott habe dem Menschen Möglichkeiten gegeben, weswegen man nicht einfach schroff Nein sagen dürfe. Verantwortungsvoll damit umgehen sei Ziel, dann könne man solcherlei Energiegewinnung auch theologisch rechtfertigen. Fundamentalkritiker aus dem linken Lager würden verspottet, weil sie katholischer als die katholische Kirche und evangelischer als der EKD seien - ewiggestriges Moralisieren sei das; die moderne Welt sei so komplex, dass man sich mit derart antiquierten Hemmschwellen, die über Jahrhunderte und Jahrtausende von Philosophie und Theologie eingeimpft wurden, der Sache nicht mehr angemessen nähern könne. Dem Fortschritt im Wege stehen: das sei verantwortungslos!
In Talkshows säßen Akteure von Lobbygruppen - keine, die grundsätzlich dagegen wäre. Radikale gegen Semiradikale - und letztere hörten sich an wie Stimmen der Vernunft. Die Semiradikalen hätten Verständnis für die Empörung; sie würden aber auch davon sprechen, dass zugunsten von Wettbewerbsvorteilen ein Rückgriff auf ein solches Mittel durchaus notwendig ist. Was, wenn die Chinesen, die kein bürokratisch angeordnetes Moralisieren kennen, von der Idee Gebrauch machten und damit Deutschland, ja die gesamte EU, wirtschaftlich erdrückten? Dann gingen Arbeitsplätze verloren - wer auf seiner ethischen Scholle festsitzt, würde der lobbyistische Semiradikalo brüten, den bestraft die Weltwirtschaft. Wir müssten uns entscheiden: traditionelle Pietät oder Fortschritt, althergebrachte Scheu vor quasi sakralen Tabus oder Arbeitsplätze und wirtschaftlicher Erfolg. Man müsse aber, so würde er seinen Vortrag beschließen, durchaus auf die Ehrfurcht der Menschen vor den sterblichen Überresten ihrer Lieben nehmen. Vielleicht könne man sich ja mit dem Gedanken anfreunden, nur solche Leichen der Energiegewinnung zu überführen, die keine Nachkommen in direkter Linie aufweisen können; eremitenhaft lebende Rentner vielleicht oder vereinsamte Frühverstorbene oder Obdachlose, die somit eine soziale Aufwertung erhielten. Eine Prämie für Familien, die ihren verstorbenen Großvater freiwillig der mobilitätswilligen Allgemeinheit überstellen, könne durchaus auch Anreize schaffen. Auch Steuervorteile für Menschen, die schon zu Lebzeiten garantierten, ihren Körper nach Ableben zu spenden, wären denkbar.
Ich stelle mir vor, dass die Politik zunächst sehr zurückhaltend agierte. Sie würde sicherlich mit Moral argumentieren, mit dem Beschmutzen des Andenkens Verstorbener, würde die abendländische Bestattungskultur aufführen. Eine Weile jedenfalls. Lobbygruppen würden feilen, schleifen, sägen. Aus den Parteien heraus fänden sich auch dann moderne Stimmen, die eine Öffnung für die neue Energiegewinnung, eine Deregulierung kleinkariert theologischer Moral fordern würden. Angestammte Zeitungen polarisierten ihr Publikum, stachelten zum Fortschritt auf, entmoralisierten in Kommentaren die körperlichen Überreste des Menschen, nennten ihn "rein organischen Abfall" - Stimme aus dem Feuilleton: "Unsere Bestattungspraxis ist veraltet und kostet die Kommunen Unsummen. Wenigstens gestorbene Bedürftige, auf deren Bestattungskosten die Allgemeinheit ansonsten sitzen bleibt, könnten doch zu Energie gemacht werden. Das gebietet nicht nur die ökonomische, das gebietet auch die moralische Vernunft!" Die Bestatter empörten sich laut, formulierten einen Aufruf zur Erhaltung der Bestattungskultur, sprächen davon, dass ein Plätzchen für einen verstorbenen Angehörigen eine Form von Menschenwürde und Menschenrecht sei - mancher Politiker garantierte den Bestattern, dass durchaus die Verpflichtung der Hinterbliebenen aufrechterhalten werden könne, Verstorbenen weiterhin eine Zeremonie zu bereiten, auch wenn kein Körper oder keine Asche begraben wird. Die Bestatter gäben sich damit zufrieden und schwiegen fortan.
Abseits der Öffentlichkeit meldeten Stimmen aus Weblogs, dass eine bekannte deutsche Zeitung vor vielen Jahren meldete, dass ein Mann aus Ostdeutschland aus Katzen Diesel filtern könne. Eine dicke Zeitungsente, die keinerlei Realitätsbezug hatte. Interessant sei an dieser Randnotiz aber, dass damals ein Aufschrei durch die Leserschaft ging - dergleichen sei unmoralisch und dürfe nicht erlaubt sein, schimpfte es damals. Heute aber ginge die Öffentlichkeit mit dieser perversen Debatte relativ unaufgeregt um. Kommentatorische Trolle meinten darauf zynisch, dass das Äpfel seien, die man mit Birnen vergleicht. Die Zeitung suggerierte damals, dass Katzen zu Tode kämen, um zu Diesel werden zu können - heute verfeuere man bereits tote Masse, schlachte nicht extra. Warum eigentlich nicht?, fragte ein Zyniker in einem Weblog. Es gibt doch ausreichend Menschen, die keiner mehr braucht, die sich aber nützlich machen würden, landeten sie im Tank. Erster Abgeordneter fordert Energie aus Arbeitslosen!, meldete eine Tageszeitung großlettrig. Ist das moralisch zu vertreten?, fragte sie darunter kleinlettrig. Die Antwort bliebe sie schuldig, die solle sich der Leser bitte selbst geben.
Einstweilen diskutierte man in intellektuellen Zirkeln darüber, was Moral an sich sei. Weshalb schenkt der Mensch dem Verbleib einer Körperhülle, die einem geliebten Menschen gehörte, so viel Beachtung? Evolutionäre Erklärungsansätze folgten, kulturelle Aspekte würden eingestreut - ein zottelbärtiger Philosoph nähme provokativ eine ganz besonders progressive Stellung ein. Beerdigungrituale seien Relikt aus Zeiten, da der Mensch in einer Gesellschaft mit Gottesbezug lebte. Damals hatte man keine Verwendung für tote Körper, man vergrub sie nicht nur aus sakralen Gründen, sondern auch, um nicht an Seuchen zu verenden. All diese Gründe und Barrieren seien nun nicht mehr gegeben. Der antiquierte Mensch, egal ob religiös oder nicht, sah den Tod als Teil des Lebens - jetzt ist mit der Energieerzielung tatsächlich dieser lebensbejahende Tod möglich; jetzt könne man als Toter das Leben florieren lassen, man könne die Mobilität stützen und damit dem Planeten zu regem Leben verhelfen. Das sei die Erfüllung der tröstenden Aussage, der Tod sei ein Aspekt des Lebens. Der Tod löse sich überdies von der Trauerkultur, weil er eine Dimension annimmt, die ihm bislang nicht zuteil wurde. Sicherlich schmerzt der Verlust eines Menschen, würde der kluge Mann sagen, jedoch würde mit der Überführung des toten Körpers in die Dienste der mobilen Allgemeinheit, auch die Chance gegeben, dass fortan nicht nur Tränen rollten, wenn jemand stirbt, sondern gleichfalls eine Art Gedenken an den sozialen Umfang des Ablebens. So wie die Seuchengefahr dem Vergraben von Leichen und deren rituelle Auswüchsen Vorschub leistete, so könnte die Erzielung von Energie durch Leichname dazu führen, dass der Tod von Angehörigen und Freunden eine rituelles Zeremoniell hervorbringe, das Freude darüber verströme, dass der Mensch selbst im Tode noch ein ökonomischer Faktor, ein nutzvolles Mitglied der Gesellschaft sein könne. Es sei nicht ausgeschlossen, dass wir bald lachend und voller Dankbarkeit ans Sterbebett des Vaters träten - diese spezielle Energiefrage löse den Menschen nämlich von der Trauer, spende ihm Trost und Zuversicht und nähme ihm als Hinterbliebenen die Bürde der Erstarrung und Desillusionierung. Eine neue evolutionäre Sprosse würde bestiegen - die Vorzüge des Lebens würden um die Vorzüge der Sterbens ergänzt. Endlich wäre der Tod somit gleichberechtigter Teil des Daseins - und endlich gäbe es Zuversicht an Sterbebetten; etwas, dass selbst der Kirche niemals komplett gelungen ist. Einwände erhielte der Zottelbart von einem Humanisten, der vom Bedürfnis des Menschen nach besuchbarer Ruhestätte für seine Liebsten spräche - Friedhöfe seien auch für die Psyche des Menschen da, sie gäben ihm Halt. Der Zottelbart konterte, dies sei psychologische Gefühlsmeierei, die in die Zeit vor der neuen Energieepoche gehörten, die aber bald schon gänzlich verschwunden sein werden - und auch müssen, will man als Menschheit eine Chance haben.
Natürlich wäre der Vorschlag, noch vom Tode entfernte Menschen der Energieerzielung zuzuführen, bald wieder vom Tisch. Wir sind ja doch eine menschliche Gesellschaft, in der zwar solche Vorschläge gemacht werden dürfen, für die man auch belohnt wird, weil wir Mut für etwas halten, das anerkannt werden sollte. Aber letztendlich zählt doch, dass Menschenleben unantastbar sind. Die Würde des Menschen, würde ein aufgebrachter Feuilletonist schreiben, sei immerhin unantastbar - dergleichen schon zu denken sei kriminell. Ein Verfassungsrichter darauf in einem Interview: "Ich kann die Aufgebrachtheit verstehen, aber halten Sie etwa ein Leben auf Sozialhilfeniveau für Würde?" Würde ist unantastbar stehe im Grundgesetz, folgerte er. Aber was, wenn ein Mensch gar keine hat? Nicht dass er Freund von Energieverwurstung durch menschliche Leiber wäre, aber er wolle nur Denkimpulse setzen. So viel Mut...
Wann käme die gesetzliche Verfügung, dass Verstorbene künftig nicht mehr auf Friedhöfen, sondern in Destillen landen sollten? Stimmte die Opposition dem Vorhaben der Regierung zu, nachdem sie bitterböse durch die Medien fluchte, als sie merkte, dass die Regierung mittlerweile Richtung Energiegewinnung durch Leichname tendiert? Ein Deal wäre die Lösung - die Regierung erhöht die Zuverdienstgrenzen für Hartz IV-Empfänger um zwanzig Euro im Monat, dafür stimmt man dem Gesetzesentwurf zu, Leichname fortan verpflichtend der Allgemeinheit übergeben zu müssen. Für die Überführung in Destillen kommt die öffentliche Hand auf - Bestattungen sind aber weiterhin, auch ohne körperliche Resthülle, verpflichtend. Kritiker wären empört, weil sich das Argument, die Leichenenergie würde der Gesellschaft auch billiger kommen, weil Bestattungs- und Grabkosten wegfielen, als Köder offenbarte.
Dafür aber wären wir mobil für alle Zeiten. Fossile Brennstoffe neigen sich dem Ende zu - aber tote menschliche Kadaver gibt es immer. Solange es Menschen gibt - und wenn es sie nicht mehr gibt, brauchen wir ja auch keine Mobilität mehr. Kriegsgebiete wären prosperierende Landstriche, denn sie erzeugten Rohstoff am laufenden Band - zwar verbiete es das hiesige Gesetz, Menschen zu töten, um Energierohstoff freizusetzen, kündete der Entwicklungsminister, aber es wäre fahrlässig, Ressourcen ungenutzt zu vergraben. Es seien ja auch nicht wir, die töteten, es seien die Kriegsteilnehmer, womit kein Konflikt mit dem geltenden Recht entstehen würde. Die Waffenindustrie erhielte nochmal Anschub, denn sie würde indirekt Energie erzeugen - und dafür, dass sie erneuerbare Energie förderte, erhielte sie Subventionen. Die jedoch nur unter der Auflage, keine Waffen zu produzieren, die Menschen zerstückelt oder zerreißt, um intakte Energieträger zu erzeugen. Alles ökologisch, alles ökonomisch - die Verfeuerung menschlicher Körper nach dem Tode machte alles besser. Und nur böse Zungen behaupteten, mit diesem Schritt sei der Weg zur Verheizung der aussortierten Gesellschaftsschichten beschritten...
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