Von Stefan Sasse
Seit der Großen Koalition hat sich in die bundesdeutsche Politik die Tendenz eingeschlichen, das Bundesverfassungsgericht zu einem dauernden Körper des Politikbetriebs zu machen. War es damals von allem das Feld der Sicherheitspolitik, auf dem man sich darauf zu verlassen schien, dass das BVerfG schon die ultimative Form der durch den Bundestag gebrachten Gesetze beschließen würde, so ist es derzeit die Europapolitik. Beiden Feldern ist gemein, dass es eine Opposition im Bundestag eigentlich kaum wahrnehmbar gab. Vielmehr verlassen sich beide, Regierung und Opposition, auf den Spruch aus Karlsruhe. Auch die Öffentlichkeit verfällt bei der Nachricht, dass eine bestimmte Entscheidung in Karlsruhe zur Klage gebracht wurde in eine regelrechte Schockstarre. Es ist wie früher mit einem Monarchen, der das Veto-Recht besitzt: man schaut wahlweise oder ängstlich in sein Gesicht und versucht die Regungen zu lesen, stets in Erwartung vor dem Spruch, der über das Schicksal der jeweiligen Sache entscheidet. Das Bundesverfassungsgericht, das als letzte judikative Instanz angetreten wurde und dessen Aufgabe eigentlich eher ist, Gesetze auf Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, gerät so mehr und mehr zu einem Spieler im politischen Geschäft. Als im angesicht der letzten Entscheidung zum ESM-Rettungsschirm im Vorfeld die Frage gestellt wurde, ob sich das BVerfG überhaupt traue, eine negative Entscheidung zu treffen, hätte jedem klar sein müssen, dass hier etwas grob im Argen liegt.
Ein Gericht sollte seine Entscheidungen nach der Gesetzeslage treffen, ohne die politischen Erwägungen, die das Spielfeld von Legislative und Exekutive bestimmen. Hier liegt im Falle des BVerfG wie bei jedem Verfassungsgericht der Hase im Pfeffer. Denn eine Verfassung ist kein normales Gesetz, dessen Bestimmungen so exakt wie möglich gehalten sind, aufgeschlüsselt in Paragraphen, Absätze und Abschnitte, ständig in Kontakt mit der Realität, weil es in Gerichten und Anwaltsstuben zur Anwendung kommt. Verfassungen sind oftmals offen geschriebene Kompromissergebnisse die nicht vielmehr als Wünsche und Zielideen formulieren, ohne dass klar würde, was der jeweilige Paragraph genau aussagt. Im Gegensatz zu "normalen" Gesetzen sind Verfassungen einer ständigen Interpretation unterworfen, und sie sind auch so gedacht. Im Normalfall wird dieser Interpretationsspielraum von der Politik ausgefüllt, und eine Verfassung zieht nur einige wenige absolute Schranken. In letzter Zeit aber entschied das BVerfG zunehmend über hochpolitische Fragen, die eigentlich überhaupt nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegen. Die Entscheidung über die Haushaltsführung ist schon immer das Königsrecht des Parlaments gewesen, doch plötzlich wirft man es den Richtern vor die Füße.
Dadurch gefährdet das BVerfG selbst die Demokratie, zu deren Schutz es eigentlich gedacht ist. Es war bereits bei den Sicherheitsgesetzen der Großen Koalition problematisch, doch stand das BVerfG hier nach überwältigender Meinung auf Seite des "Guten". Es hatte den Anschein, als ob das von Schäuble geführte Innenministerium damals einfach stets seinen Wunschzettel in Gesetzesform gegossen hätte und es den "Eltern" vom BVerfG überlassen hätte, die vernünftigen Wünsche von den Unvernünftigen zu scheiden - Barbie ja, Pony nein. Durchsuchung mit richterlichem Vorbehalt ja, Flugzeuge abschießen nein. Entscheidungen, die die Politik eigentlich selbst treffen sollte, die dem Votum der Wähler unterworfen sein sollten, wurden einfach dem beinahe geheiligten BVerfG überantwortet, das von niemandem gewählt worden ist, so wie man gern monetäre Entscheidungen der Zentralbank überlässt anstatt sie im Parlament zu verhandeln.
Dasselbe Phänomen haben wir im Falle der Entscheidung über Bundeswehreinsätze im Inland. Es ist viel Kritik am BVerfG geübt worden, dass es in einem "unmittelbar bevorstehenden Schadensfall von katastrophischen Dimensionen" einen Einsatz im Inneren erlaubt hat. Es scheint bei vielen der Eindruck entstanden zu sein, dass nun ein Militärputsch unmittelbar bevorstehe, zumindest aber der Einsatz gegen Demonstranten. Diese Kritik aber ist so töricht wie überzogen. Würde die Regierung entschlossen sein, das Militär gegen polititsche Gegner einzusetzen, so wäre die Verfassung ohnehin bereits nicht mehr wert, und der entsprechende Paragraph hielte niemanden ab. Zu glauben, das BVerfG könnte im Zweifel mit einem Richtspruch einen Militärputsch aufhalten ist absurd. Eine solche Machtstellung besitzt nicht das Gericht, sondern nur das Volk selbst. Dessen Vertretern muss die Verantwortung zukommen, in einem solch außerordentlichen Katastrophenfall die Entscheidung zu fällen und die Konsequenzen zu tragen, anstatt nach Karlsruhe zu blicken und zu hoffen, dass dort die unangenehme Entscheidung abgenommen werden möge.
Das aber ist feige, denn es entzieht der Politik - dem demokratisch legitimierten Gremium der Entscheidungsfindung - nicht nur die Entscheidungsgewalt sondern auch die Verantwortung. Anstatt eine Entscheidung zu treffen und sich mit dieser im Parlament zu stellen, überlässt man die Detailentscheidungen einfach einem Gericht. Auch die Opposition macht bei dem Spiel mit; anstatt Gegenvorschläge zu formulieren, klagt sie und feiert jede Streichung durch das Gericht als Erfolg. Es entsteht eine Entpolitisierung der Politik, und die Entscheidung wird mehr und mehr einem Gremium aufgebürdet, das weder gewählt ist noch von seiner Natur her geeignet ist, solche Entscheidungen zu treffen. Aus dem ständigen Rekurs auf das BVerfG spricht ein zutiefst undemokratischer Geist, der Versuch, Entscheidungen an eine scheinneutrale, über den Dingen schwebende, kompetente Instanz auszulagern. So eine Instanz aber kann es nicht geben, und es ist an der Zeit, die Verantwortung an die Politik zurückzugeben, wohin sie gehört.