“Zwischen dem Türkisblau des Wassers, woran ich mich in drei Stunden nicht satt gesehen habe, und dem hohen Laubwald, der diesen Fleck der Seligen umgrenzt, liegen sie auf dem Rasen, Körper von jugendlicher Pracht; aus der ruhigen Grünfläche überrascht die Ockerfarbe ihrer Glieder. Das ist etwas ungewöhnlich Schönes, unverhüllte Menschen in der Landschaft zu sehen. Denn in vielen Bädern ist es keine Landschaft mehr, sondern Kulisse, was den Badenden umgibt, sodass sich dann der ausgekleidete Mensch meist unpassend ausnimmt.”
Dieses Zitat stammt aus dem Aufsatz über das Wellenbad des Zürcher Grand-Hotel Dolder, betitelt “Vom kleinen Meer im Wald”, der am 28. Juni 1935 in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt wurde. Der mit solcher Faszination über das Freibad schreibt, ist ein junger, damals noch nicht fünfundzwanzigjähriger Schriftsteller, dessen erster Roman ein Jahr zuvor erschienen und von der Presse überaus lobend besprochen worden ist: Max Frisch.
Von klein auf hatte Frisch Schriftsteller werden wollen, hatte lustlos Germanistik studiert und war durch den plötzlichen Tod des Vaters 1932 zwar vom universitären Trott befreit, jedoch auch gezwungen worden, sich einen Broterwerb zu suchen, wodurch er bei der NZZ landete. Der Journalismus behagte dem jungen Schriftsteller nicht, auch dann schreiben zu müssen, wenn man nichts zu sagen hat, entsprach nicht seinen Vorstellungen.
So begab es sich denn, etwas mehr als ein Jahr nach Erscheinen des Wellenbad-Artikels, dass Max Frisch an der ETH Zürich ein Studium der Architektur in Angriff nahm. Noch während des Studiums veröffentlicht er seinen zweiten Roman (“Antwort aus der Stille”, 1937), danach jedoch folgt bis 1944 keiner mehr. Dazwischen liegt eine kurze, eigentlich bedeutungslose Karriere als Architekt, aus der aber ein Projekt hervorgegangen ist, das dem Zürcher Stadtbild bis heute erhalten ist: das Freibad Letzigraben.
Als Max Frisch 1940 sein Diplom erhält, herrscht bereits seit einem Jahr Krieg. Für den jungen Architekten beginnt ein mühseliges Doppelleben zwischen der neuen Arbeit und dem Aktivdienst als Kanonier in der Armee; für das Schreiben bleibt wenig Zeit. 1941 entsteht ein erstes Gebäude, ein Haus für seinen Bruder. In der Erzählung “Montauk” (1975) wird Frisch über dieses und andere seiner Abenteuer als Architekt Bilanz ziehen.
Dann kommt die grosse Chance: Im Oktober 1942 schreibt der Stadtrat einen Wettbewerb für die Gestaltung der Freibadanlage auf dem 3,5 Hektar grossen “städtischen Land am Letzigraben, zwischen Albisrieder- und Edelweisstrasse” aus. Die Vororte Albisrieden und Altstetten, auf denen das Land liegt, waren erst 1934 in die Stadt Zürich eingemeindet worden, hatten aber sich aber schon zuvor bestrebt gezeigt, ein eigenes Schwimm- und Luftbad zu bauen, da doch eine beträchtliche Entfernung zum Zürichsee besteht. Die Auffassung, dass öffentliche Bäder an natürlichem Gewässer liegen müssen, musste die Stadt mit zunehmendem Wachstum aufgeben. Im Vorfeld der Landesausstellung 1939 war im nördlichen Stadtteil Oerlikon der Prototyp des suburbanen Freibades entstanden, das ebenfalls heute noch bestehende Bad Allenmoos. Immer mehr wurden Freibäder zu einem bedeutenden gesundheitspolitischen Anliegen der sozialdemokratischen Stadtregierung.
Am 28. Mai 1943 reicht Max Frisch seinen Entwurf ein, drei Tage vor Eingabeschluss. Sein Projekt gewinnt gegen eine starke Konkurrenz von 64 weiteren Eingaben, unter denen auch namhafte Architekten wie etwa Max Ernst Haefeli und Werner Max Moser, die Erbauer des Allenmoos-Bades, sind. Die Jury, der ebenfalls namhafte Personen angehören, unter anderem Hans Hofmann und Gustav Ammann, zwei prägende Gestalter der Landesausstellung 1939, setzt Frischs Projekt einstimmig auf den ersten Platz. Das Projekt ist ambitioniert, in grossen Massen ausgelegt – und das muss es auch, ist es doch für einen Stadtteil mit 80’000 Einwohner ausgelegt.
Noch ist nicht alles bereit für den Bau. Schon in den Vierzigerjahren, scheint es, waren die Zürcher Freunde der verzögernden Intervention. Der städtische Verband für Leibesübungen schreitet ein, sie hat militärische Ambitionen: “Die Armee verlangt Soldaten, die schwimmen können, doch die Stadt Zürich kennt heute noch die Bedürfnisse von Schwimm- und Wehrsport nicht.” Durch diese Intervention kommt das Freibad Letzigraben schliesslich zu seinem Markenzeichen, dem weit aus der Landschaft ragenden 10-Meter-Springturm.
Historische Aufnahme: Hauptbecken des Freibads Letzigraben mit 10-Meter-Springturm.
Bis Dezember 1944 überarbeitet Frisch das Projekt, macht die definitive Kostenaufstellung. Mit 4,5 Millionen Franken liegt sie gut 2 Millionen über dem veranschlagten Budget. Eine weitere Überarbeitung ist nötig. Im Mai 1945 wurden die erforderlichen Einsparungen eingeplant, im Mai 1946 bewilligen die Stimmberechtigten den Kredit von letztlich doch 3,84 Millionen Franken, im August 1947 endlich ist Baubeginn, knapp fünf Jahre nach der ersten Ausschreibung. Inzwischen ist der Weltkrieg vorbei und Frisch hat, während sein architektonisches Projekt der Ausführung harrte, wieder mit dem Schreiben begonnen: Romane, Tagebücher und vor allem Theaterstücke.
“Eine Zeit lang geht beides nebeneinander, der Bau und die Proben auf der Bühne. Um acht Uhr ins Büro; um zehn Uhr fahre ich ins Schauspielhaus zu den Proben, sitze als Laie im Parkett und höre. Wenn die Schauspieler nach Hause gehen, um Texte zu lernen, fahre ich zur Baustelle und sehe, wie sie den Sprungturm ausschalen, anderswo Platten verlegen, wie der Schreiner endlich seine Werkstattarbeit bringt und einpasst. Da klappt nicht alles, sowenig wie bei den Proben im Schauspielhaus. Verkörperlichung dort wie hier. Zwar bewerkstelligen es die andern, trotzdem habe ich das Gefühl, Hände zu haben. Es entsteht etwas.”
Frischs überarbeiteter Entwurf vom 25.12.1945
Fotografien von der Baustelle:
Der Architekt auf der Baustelle, 1949.
Max Frisch (r.) auf der Baustelle mit Bertolt Brecht, 1949: “Von allen, die ich bisher durch die Bauten geführt habe, ist Brecht der weitaus dankbarste, wissbegierig, ein Könner im Fragen” (Tagebuch 1946-49, 637).
Im Juni 1949 sind die Bauarbeiten schliesslich beendet, der schon erwähnte Gustav Ammann steuerte die Gartenanlage bei. Heute steht das Freibad Letzigraben – oder: Max-Frisch-Bad – unter Denkmalschutz, 2006/07 wurde es einer Gesamtsanierung unterzogen.
In Max Frischs Leben hat der Bau der Badeanstalt, nicht nur als einzig bleibender Markstein seiner Architektenlaufbahn, einen wichtigen Stellenwert. Verzweifelt ob der schrecklichen Zerstörung des Krieges, die er unter anderem im April 1946 während einer Reise durch Deutschland erlebt, kommen ihm grosse Zweifel, am Schreiben, an der Schweiz, am Lauf der Welt. Der Arbeitsbeginn im August 1947 gibt einen gewissen Halt, lässt ihn Zuversicht schöpfen. Im Hinblick auf die Geschichte des Letzigraben-Areals schreibt er:
“Vor hundert Jahren war hier der Galgenhügel und weiter drüben ist es das alte Pulverhaus, das sie eben abbrechen; fast lautlos stürzen die alten Mauern, verschwinden in einer Wolke von steigendem Staub – Wären es die Pulverhäuser aller Welt!”
Der Restaurantpavillon: Wenige Meter neben dem ehemaligen Galgen, an dem noch bis 1810 die Verurteilten gehängt wurden.
Der Tonfall seiner Reisebeschreibungen verändert sich, Architektur rückt allerorten ins Zentrum, die Arbeit an neuen Projekten symbolisiert ihm die Überwindung von Krieg und Zerstörung. Am Tag der Eröffnung, dem 18. Juni 1949, notiert er ins Tagebuch:
“Heute Samstag ist die Anlage eröffnet worden. Sonniges Wetter und viel Volk. Sie schwimmen, springen von den Türmen. Die Rasen sind voll von Menschen, halb nackt und halb bunt, und es ist etwas wie ein wirkliches Fest.”
Die Erläuterungen und Bildquellen dieses Artikels sind folgenden Quellen entnommen:
Bindner, Ulrich/ Geering, Pierre (Hg.) Freibad Letzigraben von Max Frisch und Gustav Ammann. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2007.
Hage, Volker (Hg.) Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten. Berlin: Suhrkamp 2011.
Obschlager, Walter. “Wären es die Pulverhäuser aller Welt”. Gedanken zum Bau des Letzibades von Max Frisch. In: NZZ 6.8.2011 (online)