“Er wohnte in einer Höhe über der am rechten Ufer, wo der See seine Wasser als Limmat zusammendrängt, gelegenen größern oder alten Stadt; diese durchkreuzten wir, und erstiegen zuletzt, auf immer steileren Pfaden, die Höhe hinter den Wällen, wo sich zwischen den Festungswerken und der alten Stadtmauer gar anmutig eine Vorstadt, teils in aneinander geschlossenen, teils einzelnen Häusern, halb ländlich gebildet hatte.”
Bodmer-Haus. Quelle: Thomas-Mann-Archiv
Mit diesen Worten beschreibt Johann Wolfgang von Goethe in seinem autobiographischen Text “Dichtung und Wahrheit” einen Besuch in Zürich im Jahre 1775. “Er” – der, den Goethe gemeinsam mit dem Grafen Stollberg und 1779 noch einmal mit Herzog Karl August besuchte – das ist Johann Jakob Bodmer (1698 – 1783). Der Philologe bewohnte das besagte Haus, das sich auf dem Gelände der heutigen Universität Zürich befindet und nun das Thomas-Mann-Archiv beherbergt, seit 1739 und hatte vor Goethe bereits andere prominente literarische Gäste beherbergt: Ewald von Kleist, Christoph Martin Wieland und – im Sommer 1750, als Goethe noch kaum ein Jahr alt war – Friedrich Gottlieb Klopstock.
F.G. Klopstock. Quelle: ZB
Der damals 26-jährige deutsche Dichter Klopstock hatte zwei Jahre zuvor Aufsehen erregt, als die ersten drei Gesänge seiner gross angelegten Messias-Dichtung in der Bremer Zeitschrift “Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes” erschienen waren. Zu den frühen Bewunderern, die in Klopstock den “Verkünder einer neuen Poesie” sahen, wie Lucien Deprijck in seiner Romanumsetzung von Klopstocks Zürich-Aufenthalt schreibt, gehörte auch Bodmer, der den jungen Deutschen in die Schweiz zu lotsen suchte. Klopstock, auf Gönner und Mäzene angewiesen, folgte der Einladung, nicht aber ohne zuvor seine Wünsche brieflich geäussert zu haben. Am 28. November 1749 fragt er Bodmer:
“Und, noch eine Frage, die auch einigermassen bey mir mit zur Gegend gehört, denn mein Leben ist nun zum Punkt der Jünglingsjahre gestiegen. Wie weit wohnen Mädchens Ihrer Bekanntschaft von Ihnen, von denen Sie glauben, dass ich einigen Umgang mit ihnen haben könnte? Das Herz der Mädchen ist eine grosse weite Aussicht der Natur, in deren Labyrinthe ein Dichter oft gegangen seyn muss, wenn er ein tiefsinniger Wisser seyn will.” [Zum Brief]
Klopstocks, in seinem jungen Alter wohl kaum überraschende, Neigung zu trinkseligen Verlustigungen in Begleitung junger Mädchen, führte bald schon zum Zerwürfnis mit Bodmer, der seinen verehrten jungen Dichterstar in die elitären Zürcher Gesellschaftskreise hatte einführen wollen. Klopstock aber zog es vor, sich mit Gleichaltrigen abzugeben, zu denen insbesondere Hans Caspar Hirzel, der spätere Erste Stadtarzt, den er bereits aus Leipzig kannte, und Hartmann Rahn, sein späterer Schwager, zählten. Am 21. Juli 1750 war Klopstock in Zürich eingetroffen, vom 27. bereits ist der Brief Rahns datiert, der zu jenem Ereignis einlädt, aus dem der deutsche Autor Lucien Deprijck nun einen Roman gemacht hat: Eine Lustfahrt auf dem Zürichsee (oder “Zürchersee”, wie Klopstock seine daran erinnernde Ode betiteln wird).
“Ein letzter Tag Unendlichkeit. Geschichte einer Lustfahrt” (Unionsverlag, 2015) ist ein galanter Streifzug durch das Zürich des Jahres 1750. Eine Stadt, in der die jungen Leute religiöse Strenge und eine rigide gesellschaftliche Etikette gewohnt sind, die es jungen Frauen nicht einmal erlaubt, auf offener Strasse mit ihnen unbekannten jungen Männern zu sprechen. In dieses Umfeld – vertreten durch Bodmer – dringt nun der aufgewühlte Klopstock ein, der “die seltene Gabe, allen Frauen zu gefallen” besitzt. Hirzel und Rahn wollen ihn vom Liebeskummer ablenken, den ihm die unerwiderte Zuneigung zu seiner Cousine Maria Sophia Schmidt eingetragen hat. Sie sind bereit, vieles dafür zu tun, sie organisieren eine Lustfahrt, auf der Hirzel Klopstock seine eigene Gattin offeriert, die “ihm ihre Reize so abwechslungsreich wie möglich darzubieten” (Originalzitat aus Rahns Brief) gedenke. Die jungen Zürcher verfolgen dabei auch eigensinnige Motive, jeder will “ein Stück von seinem Ruhm über die eigene Schwelle bringen”: Klopstock soll die Stadt zu seiner neuen Heimat machen, auf dass sie zu einer kulturellen Metropole heranwachse.
Neun Frauen und neun Männer nehmen an der Fahrt teil, sie werden zu bisweilen ziemlich ungleichen Paaren gruppiert. So zugetan Klopstock seinem Los, Hirzels Gattin Anna, auch ist, so viel stärker ist die Faszination, die er für die siebzehnjährige Anna Maria Schinz empfindet. In der Ode an den “Zürchersee” wird er sie “Fanny” nennen, gleich wie in früheren Gedichten die geliebte Cousine Schmidt. Die Annäherungsversuche des begierigen Dichters an die kluge, scheue Bewunderin seines Werks sind das Zentrum von Deprijcks Roman, in ihnen spiegeln sich die verbohrte Frömmigkeit, die männliche Dominanz und die sozialen Konflikte der damaligen Gesellschaft.
“Aber dies, so allein zu sein mit einem Mädchen, stand nicht einmal einem Bräutigam zu! Sie fühlte sich schuldig. Als könnte jeden Augenblick ein Strafgericht über sie hereinbrechen. Die innere Unruhe war kaum zu unterdrücken. Doch wenn alle billigten, was geschah, befand dann überhaupt Not, sich schuldig und unbehaglich zu fühlen? Durfte sie dann nicht, so ganz unverhofft, diese Augenblicke, diesen ganzen Tag geniessen wie die Prinzessin in einem Märchen?”
In einer manchmal etwas gestelzten Sprache erzählt Deprijck vom Leben und Lieben im Zürich des 18. Jahrhunderts, das verdichtet zu jenem einen symbolischen Tag der Klopstock’schen Lustfahrt daherkommt. Manche stilistische Mangelerscheinung (lange Dialoge in indirekter Rede), manch fragwürdiger Anachronismus und historische Zweifelhaftigkeit (Die Gesellschaft diskutiert über aktuelle Themen wie “Goethes Geburt in Frankfurt” – als sei der spätere Dichterfürst bereits einjährig Gesprächsthema gewesen…) seien dem Autor verziehen, ist der Text doch insgesamt ein interessanter, vergnüglicher und detailliert recherchierter Streifzug durch die Zürcher Gesellschaft, ihre Beziehungen zu Religion, Familie und Sexualität anno 1750. Kurzum: Eine bedeutende Episode aus dem literarischen Stadtleben in bekömmlicher Verpackung.