Zürcher Streifzüge (5): Friede zwischen Palästen?

Von Vigoleis01

Beginnen wir ganz unten: An der Bahnhofstrasse, Zürichs prominentester Passage, die den Hauptbahnhof mit dem See verbindet. Bis ins Jahr 1864 lagen hier offene Wassergräben, Teile der ehemaligen Stadtbefestigung. An deren bekanntestem, dem Fröschengraben, befand sich zwischen 1832 und 1865, im sogenannten “Hinteramt” des Augustinerklosters, der erste Sitz der Universität Zürich, die am 29. April 1833 feierlich eröffnet wurde.

Die Universität Zürich am Fröschengraben, 1838-1964. Q: Wikipedia.

25 Professoren und 15 Privatdozenten lehrten hier vor kaum mehr als 150 Studierenden Theologie, Jurisprudenz, Philosophie und Medizin. 1837 lobte der Rektor Ludwig Freiherr von Löw: “Sehr selten fallen Unordnung, fast niemals Duelle vor, und Renomisterei, Burschikosität, Landsmann- und Burschenschaften sind fast gänzlich unbekannte Dinge. Auch in der wissenschaftlichen Vorbildung leisten die Zürcher nur alles Wünschbare.” Früh in diesem Jahr, am 19. Februar 1837, verstarb ein junger Dozent der vergleichenden Anatomie, der als Exilant aus Strassburg erst im Jahr zuvor nach Zürich gekommen war: Georg Büchner.

Steckbrief Büchner. Q: ZB

In Deutschland als Staatsverräter steckbrieflich gesucht, flüchtet Büchner 1835 nach Strassburg zu seiner Verlobten. Hier schreibt er die medizinische Abhandlung “Mémoire sur le système nerveux du barbeau”, mit der er sich an der jungen Universität Zürich bewirbt. Nicht zuletzt aufgrund der Fürsprache des ersten Rektors der Zürcher Uni, Lorenz Oken (1779-1851), seines Zeichens ebenfalls vergleichender Anatom, wird Büchner in die Schweiz eingeladen. Als “Asylant der Sonder-Classe” darf er übersiedeln und am 5. November 1836 seine Probevorlesung “Über Schädelnerven” halten. Sein Aufstieg ist rasant, er wird Privatdozent und habilitiert. Seinen Kurs “Zootomische Demonstrationen” besuchen dennoch lediglich fünf Hörer. “Feuerseele” nennt ihn einer von diesen.

Überqueren wir nun die Limmat, steigen die steilen Gassen der Altstadt hoch an die Spiegelgasse 12 (Sie wird ein andermal detaillierter Teil der Streifzüge sein…). Hier lebte der junge Dozent Büchner, hier schrieb er nachts an den Stücken “Woyzeck” und “Leonce und Lena”. Seine Nachbarn Caroline und Wilhelm Schulz – ein emigrierter Publizist, der bis zu seinem Tod 1860 in Zürich bleibt – kennt Büchner bereits aus Strassburger Zeiten. Sie pflegen Büchner in seinen schweren letzten Tagen, nachdem er am 2. Februar 1837 an Typhus erkrankt war.

Nach seinem Tod am 19. Februar 1837 geht Büchners Reise weiter bergan: Hinaus aus der Altstadt, über den Hirschengraben hinweg, wo damals – am Heimplatz, wo heute das Kunsthaus steht – der Friedhof Krautgarten lag. Hier wird der frühverstorbene deutsche Dichter und Anatom bestattet. Die Arbeit am “Woyzeck” konnte er nicht mehr beenden, seinen geplanten zweiten Kurs an der Universität nicht mehr durchführen.

Im Jahre 1848 wurde der Friedhof geschlossen, 1878 letztlich geräumt. Büchners Grab jedoch sollte schon drei Jahre früher verlegt werden: weiter steil bergan, an einen von Zürichs höchsten Punkten. Auf Anregen der deutschen Studentenverbindung “Germania”, die ihre jährliche Versammlung auf einem Hochbuck genannten Hügelzug in der Gemeinde (heute Stadtquartier) Oberstrass abhielt, wurden Büchners Überreste auf ebendiesen Hügel verlegt. Heute ist er als Germaniahügel bekannt, die Strasse darunter heisst Germaniastrasse, der Ort ist nahe der Endstation der Seilbahn Rigiblick, die zu einem formidablen Aussichtspunkt führt, umgeben von prunkvollen Villen und alten Herrenhäusern. Büchners Grabstätte aber ist unscheinbar, spärlich signalisiert, die Aussicht auf die Stadt von Bäumen und Sträuchern versperrt. Ein etwas trostloser Ort der letzten Ruhe für den grossen Unvollendeten, der so viele Fragezeichen zurückliess. Nicht zuletzt politische: Wäre Büchner irgendwann nach Strassburg zurückgekehrt, gar nach Deutschland, oder hätte er sich in den Schweizer Wirren eingelebt, die im Sonderbundskrieg und letztlich in der Gründung des Bundesstaates 1848 mündeten? Wäre er in seiner akademischen Karriere aufgegangen oder hätte er sich irgendwann gänzlich dem Schreiben gewidmet? Wie läse sich ein vollendeter “Woyzeck”? Die möglichen Antworten liegen begraben unter einem kleinen Viereck zwischen den Palästen, die Büchner einst zu bekriegen aufrief. Noch eine Frage: Hätte er hier tatsächlich seinen Frieden gefunden?

Etwas trostlos: Büchners Gedenkstätte auf dem Germaniahügel hoch über Zürich.

Wenige Meter vom Grab entfernt öffnet sich die Sicht auf den Zürichsee: Das beliebte Ausflugsziel Rigiblick, zu erreichen mit einer Standseilbahn.


Das Zitat von Ludwig Freiherr von Löw sowie die Daten zu Büchners universitärer Karriere in Zürich sind einem Beitrag von Peter Stadler aus der Festschrift zur Georg-Büchner-Gedenkfeier 1987 (erschienen bei Hans Rohr Zürich) entnommen.