Zürcher Streifzüge (2): Canettis Paradies

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Unter all den Zürich verbundenen Literaten ist Elias Canetti (1905-1994) nicht nur einer der berühmtesten, sondern wohl auch der, der seiner Wahlheimat die grösste Liebe und Dankbarkeit entgegenbrachte. In Canettis langem Leben gab es zwei Zürcher Phasen: eine frühe, 1916 bis 1921, und eine späte, 1971 bis 1994. Beide waren von grosser Bedeutung für Biographie und Werk des Nobelpreisträgers.

Geboren 1905 im bulgarischen Rustschuk als Sohn einer spanisch-jüdischen Familie, emigrierteCanetti schon im frühen Kindesalter: 1911 zieht die Familie nach Manchester, ein Jahr darauf verstirbt überraschend der Vater – “dieses Erlebnis hat mich gemacht” wird er viel später sagen: Es hat ihn zu seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Sinnlosigkeit des Todes gebracht. Die Mutter zieht mit Elias und seinen beiden Brüdern zunächst nach Wien. Auf dem Weg dahin gelangt Elias 1913 zum ersten Mal nach Zürich. Mit der Mutter steigt er hoch auf den Rigiblick, einen beliebten Aussichtspunkt – in literarischer Hinsicht als Grabstelle des von Canetti später hochverehrten Georg Büchner berühmt – und sieht hinab auf das Häusermeer. Eine Erfahrung, die er in seinen Jugenderinnerungen “Die gerettete Zunge” (1977), würdigen wird: “Die Erinnerung an diesen ersten Blick auf Zürich, das später zum Paradies meiner Jugend werden sollte, hat mich nie verlassen.”

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Scheuchzerstrasse 73. Im zweiten Stock lebte Canetti von 1916-1920 mit Mutter und zwei Brüdern.

1916 beziehen die Canettis eine Wohnung an der Scheuchzerstrasse 73. Das Paradies, “die einzig vollkommen glücklichen Jahre”, denen in “Die gerettete Zunge” gute 190 Seiten gewidmet sind, beginnen. Nachdem er gezwungen ist, ein Jahr die Primarschule Oberstrass zu besuchen, erfolgt der Übertritt ans Realgymnasium Rämibühl, der Institution, die zum Zentrum seines unersättlichen Bildungshungers wird, den er zeitlebens nicht verlieren wird. Hier verfasst Canetti, um die Zustimmung seiner Mutter, die in das Werk von Strindberg vernarrt ist, zu gewinnen, sein erstes Werk: ein in Blankversen verfasstes Drama mit dem Titel “Junius Brutus”. In der Nachbarschaft an der Scheuchzerstrasse lebt unter anderem auch der italienische Pianist und Dirigent Ferruccio Busoni, de mit seinem Bernhardinerhund Giotto auf den jungen Canetti einen nachhaltigen Eindruck macht. 1920 verlassen Mutter und Brüder die Stadt, Elias Canetti bleibt, um das Gymnasium beenden zu können, in Zürich: Er zieht seeabwärts in die Mädchenpension Villa Yalta beim Hafen Tiefenbrunnen am äussersten Rand der Stadt.

Nach Zürich lebte der staatslose Canetti in Frankfurt am Main (1921-24) und in Wien (1924-38), ehe er nach London floh, wo er die kommenden dreissig Jahre verbrachte. 1963 verstirbt seine Frau Veza. Zu ihren Lebzeiten hatte Elias Canetti bereits diverse – von Veza tolerierte, bisweilen gar “installierte” – Verhältnisse zu anderen Frauen. Eine davon war auch die am Zürcher Kunsthaus arbeitende Restauratorin Hera Buschor, deretwegen Canetti nach Zürich zurückkehrt. 1971 heiraten sie und beziehen eine gemeinsame Wohnung an der Klosbachstrasse 88, bezeichnenderweise im sogenannt “englischen Viertel” Zürichs, das aufgrund seines Baustils mit diesem Namen bedacht worden ist.

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Ein unscheinbares Mietshaus an der Klosbachstrasse 88: Im dritten und obersten Stock des Anbaus am rechten Bildrand lebten Elias, Hera und Johanna Canetti.

Unscheinbar ist das Haus, unscheinbar die Dreizimmer-Wohnung, die er hier im dritten Stock mit Hera und der gemeinsamen, 1972 geborenen Tochter Johanna bewohnte. Die Hausbesitzer waren der polnische Tenor Jan Kiepura (bereits 1966 verstorben) und seine Frau Marta Eggerth (1912-2013), eine prominente Operettensängerin und Filmschauspielerin, die mehrheitlich in New York lebte, an der Klosbachstrasse aber noch eine Wohnung besass. Selbst einst Flüchtlinge aus dem Osten vermietete das Ehepaar häufig Wohnungen an ungarische und jüdische Emigranten. (Quelle: “Der Nobelpreisträger und seine Nachbarin”, 2012) Für Canetti gehörten diese Jahre in Zürich gehörten zu seinen produktivsten, er publizierte drei Bände Lebenserinnerungen, die Charakterstudien “Der Ohrzeuge” (1974) und die Essaysammlung “Das Gewissen der Worte” (1975). 1972 wurde er mit dem Büchnerpreis, 1981 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. An den Stadtpräsidenten Thomas Wagner schrieb er am 16.8.1988 einen berührenden Brief, in dem es heisst: “Es ist ein sehr tiefer Wunsch von mir, meine Tage in dieser Stadt zu beschliessen, die ich seit der Kindheit liebe. (…) was überall sonst kaum mehr möglich wäre, – hier mag es gelingen.” Leider gelang doch nicht alles: zum zweiten Band der Studie “Masse und Macht” und zum lange geplanten Buch gegen den Tod (posthum erschienen) reichte es nicht mehr.

Obschon sich Elias Canetti kaum am kulturellen Leben Zürichs beteiligte, war er ein bekannter Mann, dem ein notorischer Ruf als verschrobener Kauz vorauseilte, was durch seine kleine, rundliche Erscheinung, den wilden weissen Haarschopf und den buschigen Schnauz noch begünstigt wurde. Manch einen Zeitgenossen mag er mit Schroffheit verärgert, manch einen Fan mit seinem forschen Beharren auf das Recht zur Privatsphäre vor den Kopf gestossen haben. Eine “Fanfare der Unerreichbarkeit” (Isolde Schaad) umgab ihn, wenn er in den Ecken der Kaffeehäuser der Stadt sass. Wem aber das Vergnügen vergönnt war, Elias Canetti näher kennenzulernen, begegnete bisweilen einem der “sprühendsten und liebenswertesten Menschen (…), der einen umwerfenden Charme, eine Komik besass” (Susanna Hochwälder).

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Canettis Grab auf dem Friedhof Fluntern.

Der Stadt Zürich blieb er über seinen Tod hinaus dankbar, indem er seinen Nachlass und seine 15’000 Bände umfassende Privatbibliothek der Zürcher Zentralbibliothek vermachte – obschon Vorverträge mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach existiert hatten. Nach dem Tod seiner zweiten Frau Hera 1988 hatte Canetti die Wohnung in London, die er mehrheitlich als Bücherlager noch immer besass, aufgegeben und die Bücher, verpackt in unzählige Kisten, beim Schweizer Transportunternehmen Welti-Furrer eingelagert. Das Angebot der Zentralbibliothek, diese Bestände sogleich zu übernehmen, und die Zusicherung der Sperrfristen, die Canetti für seine Manuskripte haben wollte, trugen zur Umstimmung ihren Teil bei. Die Stadt ihrerseits sicherte Canetti schon zu Lebzeiten ein Ehrengrab auf dem Friedhof Fluntern zu – an der Seite von James Joyce.

Erinnerungen von Leuten, die in den Zürcher Jahren 1971 bis 1994 mit Canetti – niemand durfte ihn Elias nennen – zu tun hatten, hat Werner Morlang 2005 im schönen Band “Canetti in Zürich” (Nagel & Kimche) versammelt. Dass dieses Buch und ähnliche, etwa die umfassende Canetti-Biographie von Sven Hanuschek erst elf Jahre nach dem Tod des Autors veröffentlicht wurden, liegt an eben diesen Sperrfristen, die den Zugang zu unveröffentlichtem Material verunmöglichen. Manche Aufzeichnungen von Canetti werden gar erst im Jahr 2024 für die Forschung zugänglich sein… Auch posthum schreibt Canetti die Privatsphäre gross.

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Canetti, die Bücher und die Bleistifte: eine Liebesgeschichte. Hier für einmal in London. (Quelle: www.architecturalpapers.ch)

Canettis Ruf als unwirscher Einzelgänger, verschrobener Kauz und bibliophiler Pedant, dessen militärisch arrangierte Bleistiftreihen anekdotisch-legendären Status besitzen, ist vielleicht auch durch die liebevollen Erzählungen von Zeitgenossen, wie Morlang sie gesammelt hat, nicht vollständig auszuradieren. Neben unzähligen Texten gibt es jedoch ein kraftvolles Bilddokument, das beweist, dass Elias Canetti nicht (immer oder nicht zu allen) der weltabgewandte, eigenbrötlerische Büchernarr war, den manche ihm andichten: 1969. Mit Freunden sitzt Canetti im verrauchten Zürcher Bahnhofbuffet und diskutiert die Aufführung eines seiner Theaterstücke mit dessen designiertem Regisseur. Leute vom Nebentisch mischen sich ein, stellen eine Frage – und Canetti antwortet in geradezu verblüffend akzentfreiem Zürcher Dialekt: “Er isch dä Reschissör, ich bi dä Dichter.” (Er ist der Regisseur, ich bin der Dichter). Dankbarkeit und Liebe äussern sich auch in diesem Akt der Assimilation bis auf die Ebene des Dialekts – einer Anstrengung, die man wahrlich keinem Wahlzürcher abverlangen würde. Doch Canetti hat sie unternommen: der Dichter hat sich Zürich auch sprachlich zu einer Heimat gemacht.


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