Zur Qualität politischer Argumentation

Von Zyw
Stegner vs. Sarrazin
Mal eher eine persönliche Sache, obwohl auch sie im weitesten Sinne mit politischer Gewalt und Terrorismus zu tun hat.
Auf Spiegel-Online kritisierte heute Schleswig-Holsteins SPD-Vorsitzender Ralf Stegner das Buch des innen- und sozialpolitischen Provokateurs und Bundesbank-Chefs Thilo Sarrazin, dem SPON schon eine eigene Themenseite dazu eingerichtet hat. Die Widerrede Stegners wird betitelt „Sarrazins böse Welt“ und eingeleitet mit:
Thilo Sarrazin gefällt sich in der Rolle des Unbequemen, der Klartext spricht - in Wahrheit aber argumentiert er völlig falsch, analysiert Schleswig-Holsteins SPD-Chef Ralf Stegner. Der prominente Sozialdemokrat sieht im neuen Buch des Bundesbankers eine pure Provokation. Eine Abrechnung in fünf Schritten.
Den Text finden Sie hier.
So willkommen mir Ralf Stegners „Klartext“ ist, leider „argumentiert“ oder „analysiert“ er (vielleicht auch sein Ghostwriter) nicht und hinterfragt auch nicht fundiert (wenn überhaupt) die Faktenlagen hinter Sarrazins Äußerungen – was jedoch gerade dringend nötig wäre.
Hier einige sprachliche und gedankliche Schludrigkeiten und Säumnisse:
Sarrazin, der von sich sagt, er spreche nur unangenehme Wahrheiten aus, vertritt in Wirklichkeit eine falsche inhaltliche Position.
Nein, Sarrazin vertritt eine politische, weltanschauliche Position – aber inwieweit kann diese als solche „falsch inhaltlich“ sein? Kurz: hier wird eine Ansicht (bzw. das Vertreten einer Ansicht) kritisiert, nicht aber deren Faktenbasis.
Seine Behauptung, nicht Kinder produzieren Armut, sondern Transferempfänger produzieren Kinder, ist schon eine krasse Verkehrung der Umstände in einem Land, in dem die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft.
Bitte genauer argumentieren: Inwieweit „produzieren“ Transferempfänger keine Kinder bzw. inwieweit ist das eine Verkehrung der Umstände?
Sarrazins Plädoyer gegen steigende Löhne von Niedrigverdienern und für eine Absenkung von Sozialleistungen, um das sogenannte Lohnabstandsgebot zu untermauern, entspricht der Methode Westerwelle, Geringverdiener und Transferempfänger gegeneinander auszuspielen. Das bleibt neoliberaler Unfug.
Das ist kein sachlich-argumentativer Widerspruch, sondern eine politische / ideologische Meinung, die lediglich auf die politische Gesamtposition zielt. Damit ließe sich Sarrazins SPD-Mitgliedschaft kritisieren (was auch getan wird), doch der Punkt hat hier nichts verloren bzw. wird nicht angesprochen.
Sarrazin versteigt sich zu den Thesen, Fortbildung von Unterschichtsangehörigen lohne sich nicht, und behauptet sogar, das Bildungswesen sortiere unerbittlicher, je chancengerechter die Bildung erfolge. Das ist laienpädagogischer Mumpitz. Eine fortschrittliche Bildungspolitik setzt auf längeres gemeinsames Lernen und die Überwindung von sozialen Ungleichheiten. Sie gibt auch denen Chancen, die nicht aus privilegierter Herkunft kommen.
Zweierlei wird hier unzuverlässigerweise miteinander verglichen: ein Ist-Zustand und eine Institution ("das Bildungswesen") und ein Ideal auf Ebene der Vorbedingung und Zielsetzung ("eine Bildungspolitik"). Die gedankliche Richtung stimmt ja, der Widerspruch an sich geht aber ins Leere.
Auch das ist absurd. Die Behauptung, der Islam könne nicht gedacht werden ohne Islamismus und Terrorismus, auch wenn 95 Prozent der Gläubigen friedensliebend seien, ist unverhüllte Hetze.
Richtig beobachtet. Nur auch wieder keine Begründung, sondern eine Gegenmeinung ohne jede Untermauerung und mehr am Ideal orientiert als an der Berechtigung einer Sichtweise, gemäß der es zu viel Menschen gibt, die „ihre“ Religion nicht ohne Gewalt denken können/wollen.
„…aber er benutzt auch rechtsradikale Denkfiguren, wenn er zum Beispiel sagt, die Türken eroberten Deutschland wie die Kosovaren das Kosovo durch eine hohe Geburtenrate.“
Durchaus, aber selbst sehr grenzwertig argumentiert: dieser Vorwurf selbst ist eine vorgefertigte Denkfigur die den Sprecher delegitimiert („rechtsradikal“) und nicht auf den Inhalt eingeht – es sollte schließlich hier wie da darum gehen sollte, Denkfiguren zu verbieten.
Sarrazins Behauptung, offenkundige Tatsachen würden verleugnet, ist falsch.
… Und auch hier kommt wiederum kein Beleg, inwiefern welche offenkundigen Tatsachen widerlegt sind.
Alles in allem: Schade. Denn solange auf diesem Niveau argumentiert wird – auf einem Niveau, das selbst angefochten werden soll und sollte –, werden Menschen wie Sarazzin die Oberhand behalten, weil ihnen die schiere „Diskurs-Psychologie“ mit ihren Heuristiken (Einzelfallargument; Risiken müssen nur als Möglichkeit behauptet werden; von der Gegenseite hingegen widerlegt werden…) einen Vorteil verschafft.
(zyw)