Zur Nobelpreisentscheidung für die EU

Von Stefan Sasse
In meinem Kurzbeitrag zur Nobelpreisentscheidung habe ich die Frage, ob die EU den Preis verdient hat, bereits mit "Ja" beantwortet. Ich will versuchen, hier einige Gründe dafür darzulegen, besonders für meinen Spruch "Sie bekommt ihn nicht für das, was sie tut, sondern das, was sie ist." Nun, was hat es damit auf sich? Ich denke es ist universeller Konsens, dass die EU nicht gerade eine treibende Kraft der aktiven Friedenspolitik ist. Ihre Versuche, Konflikte in ihrem unmittelbaren Nachbarschaftsraum zu entschärfen, waren entweder fruchtlos oder griffen auf die NATO-Strukturen zurück, um eine militärische Lösung herbeizuführen (Kosovo, Libyen). Dazu kommt, dass an den eigenen Außengrenzen eine aggressive Flüchtlingsabwehr betrieben wird, bei der es zu Hunderten von Todesopfern kommt, und der Umgang mit ankommenden Flüchtlingen nur eingeschränkt menschenrechtlichen Standards entspricht. All das sind richtige und schwere Einwände, denn sie treffen zu. Meine Interpretation der Preisvergabe ist aber, dass die EU den Preis nicht für das erhielt, was sie getan hat (analog etwa zu Willy Brandts Versöhnungspolitik mit dem Ostblock), sondern für das, was sie in ihrem eigentlichen Gründungszweck getan hat: Kriege innerhalb Europas zu verhindern. Dieses Ziel wurde, mit der Ausnahme des Balkans, in den letzten 70 Jahren erreicht und sollte keinesfalls kleingeredet werden. Es ist eine Ehrung wert, auch wenn der Zeitpunkt durch die Euro-Krise etwas merkwürdig scheinen mag. 
Auch hier gibt es gewichtige Einwände: es gibt weder einen stichhaltigen Beweis dafür, dass die EU tatäschlich Kriege verhindert hat, die andernfalls ausgebrochen wären, und zum anderen wurde sie als ein wirtschaftlicher Zweck- und Interessenverband gegründet, nicht als Friedenseinrichtung. Dem würde ich aber entgegenstellen, dass es eine Union nur zum Zwecke des Friedenserhalts ohnehin kaum geben kann. Welches längere Interesse, in ihr zu verbleiben, hätte ein Staat denn, wenn er in kriegerischer Handlung einen Gewinn sähe? Bereits in den späten 1940er und frühen 1950er Jahre gab es Stimmen, die eine wirtschaftliche Verbindung Deutschlands und Frankreichs als Grundstein eines europäischen Friedens ansahen, und diese Stimmen wurden bestätigt - sowohl Deutschland als auch Frankreich erwiesen sich als Garanten innereuropäischer Stabilität. Ob man diese Stabilität oder die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Weichenstellungen, die damit verbunden sind - Stichworte Bürokratie, Brüsselzentrismus, Neoliberalismus - gut heißt oder nicht, hat mit dieser Frage nichts zu tun. Egal, was die EU sonst getan hat, sie hat bislang keinen kriegerischen Konflikt innerhalb ihrer Mitglieder zugelassen, ja, nicht einmal Säbelrasseln. Die oft abwertend und despektierlich zitierte Brüsseler Bürokratie mit ihrer fehlenden demokratischen Legitimation hat bislang hervorragend darin funktioniert, Staaten ihre Konflikte am Verhandlungstisch austragen zu lassen. 
Die EU hat es außerdem vermocht, die meisten Staaten des ehemaligen Ostblocks in sich aufzunehmen, in ihre Strukturen zu integrieren und sie auf eine grundsätzlich demokratische Entwicklung zu verpflichten. Sieht man sich Staaten der Region an, die nicht zur EU gehören - Weißrussland etwa oder die Ukraine - so sollte der Wert der EU umso klarer hervorstechen. Dass die Vereinigung so vieler verschiedener Staaten, Interessen und Kulturen unter einem Dach für Konflikte sorgen muss war abzusehen. Diese Konflikte blieben aber bisher friedlich, und es gibt aktuell keinen Grund anzunehmen, dass sich dies in naher Zukunft ändert. 
Wie bereits gesagt ist nichts davon eine Relativierung klar erkennbarer Schwächen innerhalb der EU. Sie hat sich als weitgehend unfähig erwiesen, extremistische Bestrebungen in Mitgliedsländern niederzuhalten (Haider in Österreich und Orban in Ungarn). Sie sieht sich vor allem als wirtschaftlicher Interessenverband und hat einer klaren neoliberalen Strategie das Wort geredet, mit allen Folgen. Gleichzeitig aber zeigt etwa die gewachsene Stellung des Europäischen Gerichtshofs in der letzten Dekade, dass die EU sich zunehmend als Hort der Rechtsstaatlichkeit begreift, und es gibt eigentlich niemanden mehr, der das Demokratiedefizit der EU nicht zumindest rhetorisch bedauert und Schritte zur Besserung gelobt. Der Preis ist daher nicht zu verstehen als ein reines "Weiter so, alles ist gut", sondern als eine Ehrung der bisher erbrachten Leistungen und eine Aufforderung, weiter zu arbeiten und sich zu verbessern.

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