Zur Klarstellung: Wir sind nicht wirklich die Mörder von Lampedusa

Mein letzter Beitrag über die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa hat verschiedene Reaktionen ausgelöst. Reaktionen, die ich so nicht erwartet und nicht vorausgesehen habe. Ich fürchte, es bedarf tatsächlich einer Klarstellung.

Einer meiner besten Freunde fand den Artikel ehrverletzend, weil ich darin auch ihn als “Mörder von Lampedusa” bezeichnet hätte. Er war empört und wollte sich das nicht gefallen lassen. Also: Ich erkläre ausdrücklich, dass ich weder eine Einzelperson, noch eine Organisation, nicht einmal die Frontex-Polizeikräfte, rechtlich als Mörder bezeichnen wollte und bezeichnet habe. Die Polizeikräfte üben ihre Arbeit im Rahmen der für sie geltenden Bestimmungen aus, die Flüchtlingshilfsorganisationen tun, was sie können, um Leid zu lindern, die aufgeklärten Bürger Europas betrachten die Geschehnisse mit Bedauern und Entsetzen. Niemand freut sich, wenn Menschen ertrinken.

Franz-Josef Hanke findet, ich hätte nicht “wir sind die Mörder” schreiben sollen. Allenfalls hätte ich die moralische Schuld der EU oder bestimmten Regierungen geben sollen. Er jedenfalls sei nicht beteiligt. Ich erkläre ausdrücklich, dass er damit recht hat. Vielleicht besitzt er die Konsequenz, keine Angst um seinen Wohlstand zu spüren und alle Folgen einer neuen Flüchtlingspolitik freudig auf sich zu nehmen.

Zwei Leute auf Twitter fanden, dass der Artikel nicht zu meinen Besten gehört, dass ich ihn aufgewühlt und nicht mit klarem Kopf geschrieben habe. Nun: Ich habe eine Woche darüber nachgedacht, wie ich das, was ich sagen will, gut formulieren kann. Offenbar ist es mir nicht gelungen, denn ich bin missverstanden worden.

Mein Freund riet mir, ausschließlich über mich zu schreiben. Und auch auf die Gefahr hin, dass damit alle Anderen, wie bereits geschehen, das Thema von sich weisen können, werde ich das tun.

Der Artikel über die Katastrophe von Lampedusa und warum so etwas möglich ist sollte aufrütteln. Er sollte uns allen bewusst machen, dass die Staaten der ersten Welt die Profiteure der Armut und des Leids der dritten Welt sind. Und weil wir alle von diesem Staat der ersten Welt mehr oder weniger mit der Möglichkeit zum Leben ausgestattet sind, weil wir Wohlstand haben, profitiert jeder Einzelne von uns davon, ob wir es wollen oder nicht. Der Beitrag sollte in Erinnerung rufen, dass z. B. die EU mit 7 % der Weltbevölkerung fast die Hälfte der weltweiten Ressourcen verbraucht. Er sollte aufzeigen, dass wir von diesem Missverhältnis in halbwegs finanzieller und sozialer Sicherheit leben. Den Kuchen gerecht zu verteilen wäre also nur dann in unser aller Interesse, wenn wir bereit wären, auf viele der Annehmlichkeiten des Alltagslebens zu verzichten. Mein Fehler war es, zu erwarten, dass meine Leserinnen und Leser mit mir der Ansicht sind, dass es einen Ort in jedem von uns gibt, wo wir nicht hilfreich, edel und gut sind, sondern wo wir Angst haben um unseren Wohlstand und unsere Sicherheit. Aber so etwas zu erwarten ist töricht, denn diese Angst zu empfinden und dann auch noch zuzugeben, ist schmerrzhaft. Niemand möchte sich Schmerzen zumuten. Ich habe angenommen, dass ein wolcher Schmerz auch dazu führen kann, dass man sich ehrlicher und offener um eine Lösung bemüht, als es derzeit meiner Ansicht nach der Fall ist.

Also spreche ich nur von mir selbst:

Ich kämpfe für soziale Sicherheit und einen gewissen Lebensstandard. Als Kind, aufgewachsen in einer alten, nicht modernisierten Arbeitersiedlung, kannte ich lange keine Dusche und keine Badewanne, kein heißes Wasser im Hahn, kein Wasserspülungs-WC, sondern nur ein stinkendes, eiskaltes Plumpsklo hinter unserem Haus. Das war in den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Meine Ansprüche an Wohlstand und ähnliches sind also, was heutige Maßstäbe angeht, vergleichsweise gering geblieben. Und doch: Doch möchte ich nicht so leben, wie ich es aus den Erzählungen meiner Eltern kenne: Rationierte Lebensmittel, rationierter Strom, lecke Häuser, kein Anschluss an die Kanalisation, höchstens einmal in der Woche Fleisch auf dem Teller, Brennnesselsuppe und Selleriebowle als Nahrungsmittel, zu teuer die Kleidung, die Bildung, die Lebensmittel, die Haushaltsgüter.

Würden wir in einem Land leben, das nur 1,1 % der weltweiten Ressourcen verbrauchen darf, das ist der Anteil Deutschlands an der Weltbevölkerung, bin ich sicher, würden sich kleine Angestellte, von Arbeitslosen ganz zu schweigen, nicht mehr viel leisten können. Sie müssten froh sein, wenn sie ein Dach über dem Kopf hätten, aber Feuerstellen statt Heizungen kämen wieder in Mode, nehme ich an, und statt des Autos wären vermutlich kleine Roller oder vielleicht auch Mopeds in. Viele Alltagsgüter, die heute in Ländern der dritten Welt billig produziert werden, wären sehr teuer, während der Lohn in Deutschland vermutlich radikal absinken würde.

Ich habe mich daran gewöhnt, ein Telefon, ein Radio, einen Computer zu haben, billig einkaufen zu können, trotz wenig Geld satt zu sein, ein Dach über dem Kopf zu haben, mir in bescheidenem Rahmen etwas leisten zu können, in Urlaub zu fahren und Bahnreisen finanzieren zu können, um nur einige Beispiele zu nennen. Und ich möchte diese Möglichkeiten gern bis ans Ende meines Lebens nutzen. Ich weiß aber, dass all dies für mich und Menschen meiner Wohlstandsklasse anders werden würde, wenn wir ernst machen würden mit der weltweiten gerechten Verteilung. Nähmen wir alle Flüchtlinge auf, wären die Sozialkassen schnell bankrott, das würde auch ich zu spüren bekommen. Wenn wir die Grenzen grenzenlos öffnen, müssen wir alle Menschen aufnehmen, die zu uns kommen möchten, das verlangt der
Gleichbehandlungsgrundsatz. Wir müssten diese Menschen angesichts des Wohlstandsgefälles in der EU gerecht auf die Mitgliedsstaaten verteilen und so ausstatten, wie wir selbst ausgestattet sind, denn ich bin dagegen, dass Flüchtlinge Menschen zweiter Klasse werden. Gleichzeitig müssten wir einen gewissen Teil unseres Bruttosozialproduktes an die armen Länder der Welt abführen, um solidarisch dazu beizutragen, dass es sich dort zu leben lohnt. Damit würden wir dafür sorgen, dass die Menschen vor allem in Afrika sich nicht mehr aus Verzweiflung geldgierigen Schleppern anvertrauen, die sie auf heruntergekommene Seelenverkäufer verfrachten und sie im Ozean ertrinken lassen.

Aber wir – pardon, ich wollte ja nur von mir sprechen -, also noch mal. – Aber ich rege mich schon darüber auf, dass die Hartz-IV-Bezüge nicht erhöht werden, dass Frauen oft weniger verdienen als Männer, dass behinderten Menschen die Teilhabe teilweise verweigert wird, dass Menschen in Leiharbeit ausgebeutet werden. Das alles wäre kein Thema mehr, wenn wir wirklich eine solidarische Politik gegenüber der dritten Welt durchführen würden.

Damit ich nicht wieder missverstanden werde: Ich rede nicht rechten Ideologien das Wort. Ich denke nicht, dass man die Grenzen dicht machen sollte, um unseren Wohlstand zu sichern. – Aber irgendwo in mir drin sitzt die Angst vor Verarmung. Ich heiße die Aktionen von Frontex und der EU nicht gut, aber ich gebe zu, dass ich mir dessen bewusst bin, dass ich empfindliche Einschränkungen hinnehmen muss, wenn wir nicht nur eine andere Flüchtlingspolitik fordern, sondern sie auch konsequent verwirklichen.

Wir sind nicht die Mörder von Lampedusa, aber zumindest ich verhindere es nicht so, wie man es sollte. Ich sitze nicht auf einem Greenpeace-Boot, ich zeige niemanden wegen Menschenrechtsverletzungen an, ich sitze immer noch hier an meinem Computer und schreibe, esse Lebensmittel, die billig sind, kaufe Dinge, die ich nicht wirklich zum Überleben brauche. Und irgendwie möchte ich auch nicht, dass sich das ändert. Trotzdem fordere ich eine andere Flüchtlingspolitik. Mir geht es wie dem linken Künstler, der Kommunismus predigt, aber Champagner trinkt, den er sich eigentlich nicht leisten könnte, wenn er nur ein kleines Gehalt hätte. Aber er nimmt die Ungleichheit hin, mag sie nicht, aber genießt auch die Früchte, die sie ihm beschert.

Das habe ich mit meinem Artikel sagen wollen. Und ich habe sagen wollen, dass ich mich dafür schäme und es wenigstens mir bewusst mache. Und ich habe gewollt, dass auch viele andere Menschen sich das bewusst machen. Ich habe sagen wollen, dass wenn die Flüchtlingspolitik der EU für uns alle unerträglich ist, dass wir dann die Möglichkeit haben, sie zu ändern, wie z. B. durch einen Volksaufstand. Aber die Tatsache, dass es diesen Aufstand nicht gibt, sagt einiges aus über unser Be- und Empfinden, zumindest über meines.


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