Der evang.-luth. Theologe und bekennende Laizist Peter Franz aus Weimar. (Foto: privat)
Für Atheisten und Freidenker empfinde ich Respekt, sind sie doch bemüht, alles Leben und Streben auf diesem Planeten und im Kosmos rational zu erklären, wobei sie auf metaphysische Krücken verzichten. So kann man Dr. Vera Butler aus Melbourne, die in ihrem Beitrag „Nachsinnen über drei Religionen“ (erschienen im RotFuchs 182) die Gebrechen und (leider nicht vor Gericht zu bringenden) Verbrechen der großen Weltreligionen aufzählt und auf deren Mitverantwortung für Kriege, Unterdrückung und Menschenverachtung hinweist, generell nur zustimmen.
von Peter Franz
Die Feststellung, daß die „heiligen” Schriften keine Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis sind, wird von den Gelehrten mindestens der beiden großen christlichen Konfessionen nicht bestritten, ist also in unserem Lebensumfeld allgemein anerkannt. Einem Nebensatz in diesem Satz möchte ich jedoch widersprechen:
„Die ‚heiligen‘ Schriften der drei monotheistischen Religionen … sind erklärtermaßen keine Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern verlangen von den Gläubigen Unterwerfung, gedankenloses Nachbeten von Psalmen und Suren, wobei deren Fabeln ebensowenig himmlische Offenbarungen wie Märchen oder Sagen sind.” (Hervorhebung vom Verfasser)
Aus Vera Butlers Sicht auf den Menschen als gesellschaftliches Wesen gibt es nur das Gegenüber von wissenschaftlicher Erkenntnis und blindem Gehorsam gegenüber unbewiesenen unwissenschaftlichen religiösen Texten. Das halte ich für eine Einengung, ja, für die Hinleitung zu einer Alternative, in die sich das wirkliche Leben nicht hineinzwängen läßt.
Zum einen ist zu fragen, wie es um die Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnis für das gesamte menschliche Leben steht. Unbestritten bleibt diese für allen Umgang des Menschen mit materiellen Erscheinungen, einschließlich der belebten Natur mitsamt des Menschen, wenn es um Erkenntnis von deren Entstehung, Entwicklung, Pflege und Förderung geht.
Selbst die Psychologie bedient sich ja wissenschaftlicher Erkenntnismethoden. Doch frage ich – und nun kommt mein Einwurf -, ob denn das ganze menschliche Leben nur aus Streben und Anwenden wissenschaftlicher Erkenntnisse besteht?
Ich denke, jedem ist sofort klar, daß es Bereiche gibt, in denen Menschen nicht als Forscher und Wissenschaftler agieren, sondern als vom Gefühl geleitete „beseelte” Wesen, deren wichtigste Entscheidungen und Erfahrungen gerade nicht wissenschaftlich fundiert sind.
Eine zweite Bemerkung: Bei der Lektüre des Aufsatzes spüre ich einige etwas herablassende Töne, wenn es um nichtwissenschaftliche Texte geht: Fabeln, Märchen und Sagen scheinen der Autorin zu belächelnde, vielleicht sogar zu überwindende Relikte aus vorwissenschaftlichen” Zeiten zu sein.
Aus meiner Beschäftigung mit Widerstand und Verfolgung durch das Naziregime habe ich erfahren, welche tiefe und rettende Bedeutung gerade auch poetische Texte, Gedichte, Lebensweisheiten, aber auch Musik und Gesang für die inhaftierten und gedemütigten Menschen besaßen. In Buchenwald ein Gedicht von Goethe zu lesen oder aus dem Gedächtnis vorzutragen, hat aufgebaut und im Widerstehen bestärkt. Ich könnte viele Beispiele anfügen, daß Menschen durch Berührung mit Musik, Literatur und Kunst wichtige Lebenserfahrungen machen konnten – ganz „unwissenschaftlich”.
Noch einmal meine wichtigste These: Gleichbedeutend und gleichgewichtig wie die Ratio ist auch die Psyche ein untrennbarer Bestandteil des menschlichen Wesens. Es macht keinen Sinn, beide gegeneinander ausspielen zu wollen, so daß dann der eine über den anderen Anteil siegt. Bei solchem Vorgehen können der Mensch und die Menschlichkeit insgesamt nur verlieren. Wenn ich meinem Enkel eine „unwissenschaftliche” Gute-Nacht-Geschichte vorlese, habe ich sicher genauso zu seiner Persönlichkeitsentwicklung beigetragen wie später der Mathematik- oder Physiklehrer in der Schule.
Und an manchen berühmten Beispielen zeigt sich ja auch überzeugend, daß nicht nur Kenner des Kommunistischen Manifests, sondern auch Beter von Psalmen, Sänger von Chorälen und Genießer Bach‘scher Musik Persönlichkeiten mit großer Vorbildwirkung geworden sind – denken wir nur an Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, aber auch an Albert Schweitzer und Martin Luther King.
Natürlich fordert eine so vernichtende Beurteilung des Handelns der christlichen Kirchen in ihrer 2000jährigen Geschichte zur Stellungnahme auf. Für mich gilt, daß ich erstens für konsequenten Laizismus eintrete, also die staatliche Alimentierung der Kirchen ablehne. Die schon in der Weimarer Verfassung postulierte Trennung von Staat und Kirche muß endlich durch die Gesetzgebung des Bundes und der Länder vollgültig verwirklicht werden.
Zum anderen setze ich mich in den kirchlichen Kreisen, die mir noch zugänglich sind, dafür ein, daß meine Mitchristen mit dem Kenntnisnehmen und einer schonungslosen Kritik der Kirchengeschichte selbst tätig werden.
Andererseits weiß ich zu würdigen, was Kirchen trotz ihrer theologischen Irrtümer und ihrer gesellschaftlichen Verbrechen an Menschen und Völkern auch an Wertvollem hervorgebracht haben – bis in die heutige Zeit. Dabei denke ich vor allem an Musik und Literatur. Daß wir Lieder haben und singen können wie „Geh aus, mein Herz”, daß wir Oratorien von Bach und Mendelssohn hören und verinnerlichen können, daß wir uns an wunderbarer Orgelmusik erfreuen, gehört auf die Leuchtseiten der Institution Kirche.
Natürlich ist mir voll bewußt, daß sich Theologen dafür hergegeben haben, das Sterben in Kriegen um Macht und Profit auch durch Worte der Bibel, die dafür nicht geschrieben wurden, zu rechtfertigen. Mit der Trennung von Staat und Kirche würde sich dieses Problem umgehend erledigen, denn dann gäbe es auch kein Kirchenamt für die Bundeswehr mehr. Dann würde auch keine Bundeswehr-Kompanie beim Zapfenstreich mit dem Lied „Ich bete an die Macht der Liebe” beweihräuchert – denn dieses Lied ist niemals fürs Militär komponiert worden!
Machen wir es doch so, wie fortschrittliche Christen zu DDR-Zeiten der Widerstandskämpfer und der Opfer des Faschismus in Buchenwald gedacht haben: Am Gedenkstein für die dem Pogrom von 1938 zum Opfer gefallenen Juden haben wir einen alttestamentlichen Psalm gelesen und ein jiddisches Lied gesungen. In der Todeszelle von Pfarrer Paul Schneider haben wir Texte des Neuen Testaments gelesen, an sein tapferes Widerstehen gegen die Brutalität der SS erinnert und einen christlichen Choral angestimmt. Und am Krematorium, in dem der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann ermordet und eingeäschert wurde, haben wir aus seinen Briefen gelesen und danach gesungen „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit”.
Peter Franz
(Hervorhebungen im Text erfolgten durch die Redaktion.)
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]