Es stimmt: Allein dadurch, dass jetzt alle über das Thema Leitkultur reden, auch ich, hat Innenminister Thomas de Maizière eines seiner Ziele schon erreicht: Wir debattieren scharf über Ideen, anstatt über konkrete Projekte zu streiten. Trotzdem wäre es falsch, den Wahlkampfauftritt des Ministers ins Leere laufen zu lassen, mit dem er versucht, Wählerstimmen vom rechten Rand für die CDU zu gewinnen. Denn ist diese Debatte auch ohne jeden praktischen Wert, so zeigt sie doch in erschreckender Form, wess Geistes Kind wir sind.
Bevor man die Vorstellungen de Maizières auseinandernehmen kann, sollten wir uns um eine Definition bemühen. Was könnte überhaupt eine Leitkultur sein, gibt es so etwas überhaupt? In der politischen Auseinandersetzung versteht man unter einer deutschen Leitkultur offenbar Werte, Verhaltensregeln und Traditionen, die die Personen, die sie achten und für sich als selbstverständlich annehmen, als Mitglieder des deutschen Volkes charakterisieren und ausweisen. Daraus entsteht dann, so offenbar die Vorstellung der CDU, ein Wertekatalog, dem sich alle mehr oder minder freiwillig unterwerfen. Dazu gehören nach Meinung des Innenministers soziale Verhaltensweisen wie das Händeschütteln zur Begrüßung, die Nennung des Namens, das Zeigen des unbedeckten Gesichts, aber auch politische Grundentscheidungen wie die Mitgliedschaft in der Nato, das besondere Verhältnis zu Israel und der weltanschaulich neutrale, aber nicht areligiöse Staat. Desweiteren hält der Minister das Bekenntnis zum Leistungsprinzip, zur deutschen Kultur und Geschichte und zu einem aufgeklärten Patriotismus, der andere Völker nicht hasst, für erstrebenswerte Merkmale des neuen Deutschtums.
Die Frage muss erlaubt sein: Wozu sollten wir solche Festlegungen brauchen?
Unterstellt man, dass der Bundesinnenminister tatsächlich aus Überzeugung spricht, so will er damit vermutlich zum einen Sicherheit geben. Es ist ja durchaus erkennbar, dass mehr und mehr Menschen an ihrem Platz im Leben zweifeln, feste Gemeinschaften suchen, bei denen sie sich zugehörig fühlen, deren Regeln sie achten, und in deren Kameradschaft sie sich entfalten können. Bevor sie in die völkisch-nationalen Abgründe von AFD bis deutsche Mitte geraten, will de Maizière ihnen mit schlecht verhülltem, halbherzigem Nationalismus einen Platz in der Mehrheitsgesellschaft verschaffen, indem er die Mehrheitsgesellschaft selbst ein wenig auf ein bestimmtes Weltbild zu verpflichten sucht. Zum Anderen handelt es sich bei der Leitkultur um ein Steckenpferd der CDU zur Eindämmung persönlicher, kultureller, intellektueller, religiöser und gesellschaftlicher Vielfalt, das bereits seit 20 Jahren bei jeder passenden Gelegenheit aus der Mottenkiste geholt wird. Offenbar steht dahinter die Vorstellung, dass jedes Volk, wobei auch dieser Begriff eigentlich einer Definition bedarf, bestimmte Merkmale hat, die es gegenüber allen anderen Völkern auszeichnen oder charakterisieren. Wenn diese sogenannte Leitkultur aber bereits ein selbstverständlicher Teil des deutschen Volkstums wäre, wenn sie selbstverständlich von allen gelebt würde, müsste sie nicht mehr vom Innenminister beschworen und von allen Einwanderern verlangt werden. Sie wäre dann auch nicht unwandelbar, sondern würde sich mit den Neuankömmlingen und mit jeder Generation stetig verändern.
Ich fürchte, die Leitkultur, die Thomas de Maizière sich erträumt, ist ein Mittel des gesellschaftlichen Stillstands, um einen Idealzustand zu bewahren, den es so nie gab. Nie war jeder Deutsche ein Christ, nie war jeder Deutsche freundlich genug, jedem Anderen die Hand zu geben, seinen Namen bei der Begrüßung zu nennen und sein Gegenüber mit Respekt zu behandeln. Gerade die Pöbler, die sich so viel auf ihr Deutschtum einbilden, haben die deutsche Höflichkeit nicht gerade mit Löffeln gefressen. Es gibt keine Leitkultur, es hat sie nie gegeben, und sie kann auf keinen Fall von oben herab verordnet oder auch nur angeregt werden. Ein friedliches Zusammenleben kann bestenfalls vorgelebt werden, seine Autorität erwächst ihm aus der Kraft und der Ehrlichkeit, mit der die Menschen sich ihm verschreiben.
Thomas de Maizière möchte mit dieser Leitkultur die Zuwanderer an die Kandarre nehmen. Um von der Revolution der Unzufriedenen nicht selbst hinweggefegt zu werden, versucht er, die Zuwanderer, deren Einwanderung er nicht verhindern kann, auf Verhaltensweisen festzulegen. Abgesehen vom Vorwurf des dumpfen Nationalismus und Rassismus, den man ihm machen muss, sind seine Ideen auch vollkommen wirkungslos. Einen Syrer, der deutsch spricht, jedem ordentlich die Hand gibt, seinen Namen nennt, sich vor jedem Deutschen verbeugt, Beethoven und Wagner liebt, die israelische Regierung lobt, die Nato-Truppen grüßt, bei jedem Fußballspiel die deutsche Nationalhymne singt und am liebsten Eisbein mit Sauerkraut isst, erkennt man doch als Syrer, denn er muss schließlich seinen wahren Namen nennen. Glaubt jemand im ernst, die Leute, die Ausländer hassen, würden einen angepassten Syrer besser behandeln? Es ist die Angst vor Veränderung, vor Fremdem, vor Neuem, auch die Angst vor einer neuen Generation, die Angst vor der Globalisierung, die man gleichzeitig auf wirtschaftlichem Gebiet mit allen Mitteln forciert. Diese Angst ist der Nährboden für das Gerede von der Leitkultur.
Wir brauchen keine deutsche Leitkultur, es gibt sie gar nicht, es hat sie auch nie gegeben. Wir waren immer unterschiedlich, geprägt durch persönliche Umstände und genetischen Charakter, aber auch durch Klima, Sprache und Umfeld. In Hamburg lebt man anders als im bayerischen Hinterland. Diese Vielfalt ist Reichtum, aus ihr erwächst Kreativität, Weltoffenheit und Toleranz. Die Dinge, denen man sich nahe und zugehörig fühlt, sind meistens lokaler natur: Eine Stadt, die Berglandschaft, ein Dialekt, eine Lebensart, eine Musik. Sie taugen nicht zur Leitkultur und schon gar nicht zu nationaler Überhöhung. Sie sind nichts, was man irgendwem aufzwingen kann.
Überall auf der Welt verlangt und erwartet man, dass man zueinander freundlich und höflich ist bei der Begrüßung. Ob man diesen Respekt, diese Höflichkeit aber nun dadurch ausdrückt, dass man jemandem die Hand gibt, oder dass man respektvolle Worte benutzt, sich verbeugt oder die Hand auf das Herz legt und mit dem Kopf nickt, ist mir ehrlich gesagt vollkommen gleichgültig. Zunächst einmal ist die Sitte mancher Gruppen, Mitgliedern des anderen Geschlechts nicht die Hand zu geben, eben kein Ausdruck mangelnden Respekts, sondern das bewusste Nichtbetreten der Intimsphäre des Anderen. Solange der Respekt spürbar ist, sind die Anforderungen des zwischenmenschlichen Umgangs erfüllt. Ein Volk bricht nicht auseinander, wenn man sich unterschiedlich begrüßt, solange man es überhaupt tut und niemanden von oben herab behandelt. Respekt kann man nicht verordnen, und wo er fehlt, stellt man sich außerhalb des gesellschaftlichen Konsens, egal, ob man in Damaskus oder Berlin geboren ist.
Der Satz, mit dem sich der Bundesinnenminister übrigens – vermutlich bewusst – der Lächerlichkeit preisgegeben hat, zeugt selbst schon davon, dass auch er kein fester Bestandteil deutscher Leitkultur ist. Seine Forderung nach Höflicher Begrüßung mit Händeschütteln krönte er mit dem griffigen Ausruf: „Wir sind nicht Burka.“ Nein: Wir sind nicht Burka, wir sind auch nicht Papst, und ich bin nicht Hartz IV. Sie müssen sich schon Entscheiden: Entweder grammatisch korrekt und somit Teil der von Ihnen angestrebten Leitkultur, oder Straßenniveau und Teil des nationalistischen Krawallmilieus. Beides geht nicht.
Natürlich bin auch ich für bestimmte Grundwerte innerhalb eines Staates. Sie entstehen durch Vereinbarung, durch einen meist langen Prozess. Für mich kann der gegenwärtige deutsche Staat nur auf der Basis des Grundgesetzes existieren, gehören Menschlichkeit, Friedenswille und Völkerverständigung zu den unbedingten Grundwerten unseres Landes. Das ist aber keine Leitkultur. Es ist lediglich die Ordnung, mit der sich –
zumindest noch – die meisten Individuen, die hier leben, einigermaßen einverstanden erklären können. Es mag der Tag kommen, an dem sich das ändert. Dann aber, lieber Herr de Maizière, hilft Ihnen auch keine Leitkultur mehr.