...oder: Wie die heimtückische "Kulturelle Frage" die bedauernswerte "Soziale Frage" bis zum Herzstillstand trieb und wie die pfiffige Ökologische Frage nun doch noch zur erquicklichen Heldin ihrer Wiederbelebung wird. Ungefähr so könnte, im barocken Stil, ein alternativer Titel zu diesem Beitrag lauten, in dem ich skizzieren werde, wie sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine neoliberale Sozialpolitik durchsetzen konnte, die auf Wirtschaftswachstum basiert, die in ihrer Selbstverliebtheit aber nicht erkennen kann, dass ihre innere Logik nur darauf basiert, die Bedrohungen auszublenden, die nur die "pfiffige" Ökologische Frage uns vergegenwärtigen kann.
Die Kapitalismuskritik des Papstes...
...und seine moralische Infragestellung der eklatanten und sich ausweitenden Diskrepanzen zwischen Armen und Reichen in globalen wie lokalen Maßstäben, war am 04.12.2013 auch Thema in Anne Wills Talkshow mit dem Titel "Franziskus verteufelt Kapitalismus - Muss Deutschland umdenken?". Mein Hauptinteresse an dieser Sendung gilt einem Redebeitrag von Anke Domscheit-Berg, der zwei wesentliche Aspekte, auf die ich hinaus möchte, verdeutlicht: Erstens, veranschaulicht er die Entwicklung des Diskurses um die "Soziale Frage" nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus einer kapitalismuskritischen Sicht. Zweitens, ist die Art und Weise, wie die anderen Diskussionsteilnehmer_innen anschließend mit dem Argument umgehen, ein anschauliches Beispiel für die diskursive Dominanz bestimmter Argumentationsweisen, die dazu tendieren, alternative Interpretationen schnell abzuwiegeln und dadurch - ob gewollt oder unbewusst - kapitalistische Argumentationsweisen zu stabilisieren. Dies werde ich im Anschluss näher ausführen. Domscheit-Berg sagt also folgendes:
"Ich glaube, dass wir den Raubtierkapitalismus von der Leine gelassen haben, zu einer ganz bestimmten Zeit, die mit dem Umbruch des Systems im Osten zu tun hat. So lange gab es nämlich eine Konkurrenz, in der alle Kritik in politischer Hinsicht - [ob] die völlig gültig ist und Gültigkeit behält [sei] mal dahingestellt -, die aber trotzdem ein System gezeigt hat jenseits dieser Eisernen Vorhänge, in denen es eben nicht um diese Unterschiede ging, [sondern] um Gemeinschaftliches, um - eben nicht dieses reich und arm. Die Unterschiede, die gemessen werden an diesem Gini-Koeffizienten, [der zeigt] wie Einkommen und Vermögen verteilt ist in einer Gesellschaft, die waren dort besonders gleich verteilt, das lässt sich nicht wegleugnen. Man kann das sogar heute noch messen, 25 Jahre danach. Diese Drohkulisse des Kommunismus, die ist weggefallen und in dem Moment hatte man überhaupt nicht mehr den Druck, die eigene Bevölkerung irgendwie zu beschwichtigen, mehr Gleichheit zu erzwingen, die strukturell vom Kapitalismus gar nicht gewollt ist." (ab min 21:33 im u. angeh. Video)
Zunächst einmal ist dieses Argument inhaltlich interessant: Im Kern geht es darum, dass sich Kapitalismus und Kommunismus als machtvolle Antagonismen gegenüber standen. So lange sie nebeneinander existierten, war jedes System gezwungen, sich in irgendeiner Weise zum anderen zu verhalten, und zwar indem man die eigene Bevölkerung (und ggfs. auch die des anderen) davon überzeugen musste, das bessere, das sozialere System zu verkörpern.
Der Kommunismus legitimierte sich, indem er das Soziale über die Gleichheit definierte und indem er das, was nicht passen wollte, mit Planwirtschaft und einer Extra-Portion Propaganda passend machte. Die kommunistischen Staaten zeichneten sich, mit Michel Foucault, durch "Gouvernementalitäten", durch Regierungstechniken aus, die auf dem Polizeistaat, also einer hyperadministrativen staatlichen Tätigkeit, beruhen (Foucault 2004 [1979]: 135). Kurzum: Das Ziel ist die bessere Gesellschaft, das Ideal die Gleichheit und das Mittel die planwirtschaftliche Kontrolle.
Mit diesem Gegengewicht waren auch die kapitalistischen Staaten gezwungen zu beweisen, dass sie das bessere System vetreten. Ihr Ideal war aber nicht die Gleichheit, sondern eher das Gegenteil, die Differenz - ultimativ symbolisiert durch den American Dream. Die bessere Gesellschaft, so der Tenor, ist diejenige mit der stärkeren Wirtschaft; das Wachstum derselben gilt als Garant der Wohlstands-Träume der Einzelnen, aber auch des Gemeinwohls. Dies, so die neoliberale Argumentation, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, den USA, Frankreich und anderen Ländern ausbreitete, erfordere die "Freiheit der Märkte", also einen Staat, der in die Wirtschaft nicht eingreift, sondern ihr nur einen Rahmen bietet, in dem das "Spiel" der Wirtschaft stattfinden darf, auch wenn dies eine Kehrseite impliziert, nämlich soziale Ungleichheiten (durch die Konzentration von Einkommen, Vermögen, Kapital etc.) in Kauf zu nehmen (Foucault 2004 [1979]: 195 ff.). Mit anderen Worten: Das Ziel ist die bessere Gesellschaft, das Ideal ist die Freiheit (und zwar eine, die auch Ungleichheit toleriert) und das Mittel ist die Freiheit der Märkte.
Diskursive Dominanz des Kapitalismus
Obwohl dem "Westen" die Ungleichheit strukturell immanent war, hatte er mit dem Kommunismus also immer einen drohenden Antagonisten, oder vielmehr eine alternative Idee, die ihn zu Zugeständnissen an eine Sozialpolitik zwang. Man musste einigermaßen glaubwürdig machen, dass es mit der starken Wirtschaft, ingesamt auch allen besser ging. Bei der neoliberalen Sozialpolitik zwischen 1945 und 1990 ging es
"darum, nicht etwa die Kaufkraft zu erhalten, sondern ein Existenzminimum für jene zu sichern, die entweder dauernd oder vorübergehend ihre Existenz nicht selbst sichern können. Es geht um die Grenzübertragung eines Maximums auf ein Minimum und keineswegs um die Erzielung eines Mittelwerts." (Foucault 2004 [1979]: 204).Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, und dies ist der springende Punkt, auf den auch Anke Domscheit-Berg (s.o.) hinaus möchte, entfiel auch dieser Zwang, das Wohl der eigenen Bevölkerung beweisen zu müssen. Es war die Geburt dessen, was Domscheit-Berg den "Raubtierkapitalismus" nennt (erkennbar an der steigenden sozialen Ungleichheit und messbar z.B. am Gini-Koeffizienten).
Dieses Argument ist keineswegs neu. Es findet sich in ähnlicher Form auch schon bei den neomarxistischen Wirtschaftsgeographinnen J.K. Gibson-Graham, die sich die diskursive Dominanz kapitalistischer Wirtschaftsweisen in ihrem Buch "The End of Capitalism - as we knew it" (1996) zum Ausgangspunkt ihrer Kritik nehmen. In ihrer Darstellung kommt die Entkräftung des Sozialismus mit dem Ende der Blockkonfrontation zum Ausdruck:
"Socialism is just Capitalism's opposite, a great emptiness on the other side of a membrane, a social space where the fullness of Capitalism is negated. When the socialist bubble in eastern Europe burst, Capitalism flooded in like a miasma. We are all capitalist now." (Gibson-Graham 1996: 259)In einer jüngeren Publikation, "A Postcapitalist Politics" (2006), nehmen sie diesen Gedanken wieder auf, um zu zeigen, dass der Kapitalismus, befreit von seinem Antagonisten, nun zu einer unverrückbaren Natürlichkeit geworden zu sein scheint:
"The representation of the capitalist economy as extradiscursive, as the ultimate real and natural form of economy, has gained additional ideological force since the demise of capitalism's 'other'." (Gibson-Graham 2006: 55).Es geht hier also um eine neuen ideologischen Schwung "des" Kapitalismus, vor dessen Antlitz "die" Wirtschaft einen wesenhaften Charakter und eine natürliche Aura erlangt: "the almost total naturalization of 'the economy' [...] coinciding with the demise of socialism as an actually existing 'alternative'" (ebd.: 53). Eben dieser Umstand, dass "der" Kapitalismus nun konkurrenzlos ist und umso natürlicher, alternativloser erscheint, spiegelt sich - und das ist meine These zu dem zweiten Aspekt, den ich an dem Statement von Domscheit-Berg interessant finde - auch in den Reaktionen der Talkrunde bei Anne Will wieder. Auf das ausführliche (und offensichtlich vorher durchdachte) Argument Domscheit-Bergs, stellt Anne Will - anstatt inhaltlich auf diesen Punkt einzugehen - "nur" folgende Gegenfrage: "Meinen Sie nicht, man hatte mehr Angst vor den Raketen als vor der Bedrohung des Kommunismus?" Auf den eigentlichen inhaltlichen Kern des Argumentes wird danach nicht mehr eingegangen. Weshalb eigentlich?
Nun kann man darin Verschiedenes sehen: Die Sendezeit ist kurz. Es ist einfach nicht möglich, alles bis ins Detail auszudiskutieren. Dies ist sicherlich insofern wahr, als die meisten Argumente in derartigen Talkshows oberflächlich bleiben müssen.
Meine eigentliche These aber wäre, dass es sich hierbei um ein Beispiel dafür handelt, dass der Kapitalismus tendenziell (nicht prinzipiell!; siehe Gibson-Graham 1996, 2006) jenseits des Hinterfragbaren liegt. Mit anderen Worten: Anne Will wiegelt das Argument ab - ob nun mit Absicht oder nicht -, weil das Problem, das Anke Domscheit-Berg aufzeigt, eines ist, das in unserer Gesellschaft, zumindest in der Öffentlichkeit, in den letzten Dekaden immer weniger diskutiert wurde. Auch deshalb, wegen dieser Stille, ist es so ein plötzliches Novum, so eine Ungeheuerlichkeit, wenn ein Papst nun nicht nur Gesellschaftskritik übt, also nicht einfach, wie seine Vorgänger, an das Gute im Menschen plädiert, sondern mit seiner Kritik im Herzstück "des" Kapitalismus, also in "der" Wirtschaft, herumstochert! Man möchte fast sagen: eine Blasphemie am Kapitalismus! Und das aus einem Munde, der eigentlich keine Blasphemie sprechen kann, weil er ihr Richter ist, wenn auch in einer anderen Kernkompetenz.
Herzstillstand der Sozialen Frage
Zum einen legt diese Diskussionsrunde also Zeugnis von dem vergangenen kapitalistischen Siegeszug ab und, zum anderen, verdeutlicht sie etwas, das ich den (vorläufigen) Tod der Sozialen Frage nennen möchte. Damit meine ich, dass eine recht alte Frage in den letzten Dekaden zum erliegen gekommen ist. Ob bspw. in den Bauernkriegen, in der Französischen Revolution oder in der Kritik am Pauperismus mit Aufkommen der Industrialisierung - die Soziale Frage zieht sich, wenn man sie etwas weiter fasst, über Jahrhunderte durch Raum und Zeit und findet so etwas wie einen Kulminationspunkt in der Konfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stellt sich diese Frage zunächst nicht mehr ("We are all capitalist now."; Gibson-Graham 1996: 259), bzw. sie scheint beantwortet: Aus dem Sieg des Kapitalismus folgt die "Schlußfolgerung, dass es nur eine wahre und grundlegende Sozialpolitik gibt, nämlich das Wirtschaftswachstum." (Foucault 2004 [1979]). Diese Beschreibung der neoliberalen Antwort auf die Soziale Frage liefert Foucault, daran sei nochmal erinnert, bereits 1979. Nach 1989 bzw. 1992 gerät die Soziale Frage also in den Hintergrund und an ihre Stelle rückt eine andere, die ich analog die Kulturelle Frage nennen möchte.
In der (Politischen) Geographie wurde, das was ich meine, vor allem in Zusammenhang mit Samuel P. Huntingtons "Clash of Civilizations" (1996) diskutiert, welches in der deutschen Edition mit "Kampf der Kulturen" übersetzt wurde (Strüver & Reuber 2009). Zentral ist die These, dass die gesellschaftlichen Konfliktherde, da sie sich nun nicht mehr an der wirtschaftlichen Blockkonfrontation entzünden, dies in Zukunft zwischen konfligierenden "Kulturräumen" der Fall sein wird, v.a. zwischen einer vermeintlich christlichen und einer vermeintlich muslimischen Welt. In aller Kürze sei an Einteilung der Welt in die Guten und die Schurken/Terroristen verwiesen (ebd.: 321), oder z.B. auch an Thilo Sarrazin's (2010) Sorge, Deutschland schaffe sich ab. Fortan werden in der Öffentlichkeit also weniger die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede thematisiert und in ihrem Konfliktpotenzial betrachtet, sondern vielmehr die Container-Kulturen, denen man vermeintlich qua Geburt angehöre (Lentz 2009). In diesen Kontext fallen sicherlich auch die Ängste verschiedener rechtsgerichteter Gesellschaftsteile Europas, also sowohl die recht allgemeine, sich im bürgerlichen Spektrum offenbar ausbreitende Islamophobie, als auch die wertkonservative Kritik einzelner Gruppen am "Multikulti", wie z.B. die der "Identitären".
Gleichzeitig ist in den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften eine ähnlich intensive Beschäftigung mit kulturellen Fragen zu beobachten. Der "Cultural Turn" bzw. die "Cultural Turns", nehmen ebenfalls in den 1990er Jahren Fahrt auf (Bachmann-Medick 2006; Berndt und Pütz 2007), und zwar - sicher nicht nur, aber auch - in kritischer Auseinandersetzung mit den kulturellen Essentialismen, die das oben genannte konservative Spektrum aufwirft.
Wenn man mir diese Abstraktion verzeiht, möchte ich diese allgemeine gesellschaftliche Salienz dessen, was man "kulturell" nennt, ebenfalls mit einem Großbuchstaben versehen und als "Kulturelle Frage" bezeichnen. Dieser Zusammenhang, also die Ablösung der Sozialen Frage (unter die ich hier auch die wirtschaftlichen Aspekte fasse: Was ist eine gerechte Gesellschaft? Was ist eine gute Sozialpolitik vor dem Hintergrund von spezifischen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen?) durch eine Kulturelle Frage (grob: Wer "hat" bzw. gibt sich welche Identität?), diese schwerpunktmäßige Ersetzung, der einen Frage durch eine andere, wies in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft durchaus ihre Präsenz, wenn nicht sogar eine Dominanz, auf.
Die Geburt der Ökologische Frage
Neben dieser Kulturellen Frage ist heutzutage aber noch eine weitere sehr präsent, die man entsprechend die Ökologische Frage nennen könnte: Wie können die Menschen im Umgang mit ihrer Umwelt dauerhaft ihre eigene Existenz sichern? Auch wenn sie sich schon mit dem Club of Rome (Meadows et al. 1972) ankündigt, nimmt sie ebenfalls erst in den 1990er Jahren so richtig Schwung auf:
- Mit der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 wird das Thema Nachhaltigkeit "ein Dauerbrenner" (Bauriedl und Wissen 2002: 35);
- Die Grünen ziehen in den Bundestag ein (auch in anderen Staaten bilden sich "grüne" Parteien);
- der anthropogene Klimawandel wird wissenschaftlicher Konsens, aber gleichzeitig auch heftig - v.a. lobbyistisch - infrage gestellt (vgl. Boykoff und Boykoff 2004; Rahmstorf und Schellnhuber 2007: 89);
- der Begriff "Nachhaltigkeit" wird zum Leitwort, d.h. zum Machtwort (der Einen), gleichzeitig aber auch zum Unwort (der Anderen) und zur Worthülse (Stichwort: Greenwashing).
Während der Aufstieg der Kulturellen Frage gesellschaftlich intensiv thematisiert wurde und deutlich genug daraus hervorging, dass die Soziale Frage nach einer besseren, gerechteren Gesellschaft nicht mehr im Vordergrund stand, weil es schien, als ob es im Wesentlichen nur noch eine (kapitalistische) Gesellschaft gäbe, während also dieser Schwerpunktwechsel deutlich wurde, ist dies im Hinblick auf den Aufstieg der Ökologischen Frage, zumindest meinem Wissensstand nach, nicht der Fall. Dabei gibt es durchaus Anlass zur Vermutung, dass die Soziale Frage auch ein Stück weit durch die Ökologische Frage ersetzt wurde. Während der Impuls zur Kulturellen Frage tendenziell eher vom politisch konservativen, rechten Spektrum ausging, wird die Ökologische Frage vom progressiven, linken Teil der Gesellschaft vorangetrieben. Die These liegt meiner Ansicht nach durchaus nahe, dass sich weite Teile der Linken, entmutigt durch den "Sieg des Kapitalismus", fortan verstärkt ökologischen, anstelle von sozialen und ökonomischen Fragestellungen, widmen. Mit anderen Worten: Auch die politische Linke hatte ihren nicht quantifizierbaren Anteil am vorläufigen "Tod" der Sozialen Frage. Angemerkt sei allerdings, dass ich hierbei abstrahiere und keineswegs die sozialen Intentionen innerhalb der ökologischen Bewegung leugnen will. Es geht nur darum, welche Themen nach 1990 zum öffentlichen Fokus geworden sind (Kultur und Ökologie), und welches, relativ dazu, weniger im Mittelpunkt steht (Soziales).
Das neoliberale Rückgrat: Sozialpolitik durch Wirtschaftswachstum Anhand dieser Skizze dreier wesentlicher Fragen, möchte ich nun, erstens, überlegen, inwiefern die Soziale Frage wiederbelebt werden kann bzw. in welcher Relation sie sinnvoll zu den anderen stehen kann. Zweitens, geht es mir darum, den Eindruck, der aus der analytischen Trennung dieser Fragen entsteht, ein Stück weit auszuhebeln, nämlich dass es sich dabei um objektive, voneinander trennbare Bereiche handle, zwischen denen quasi keinerlei Interdependenzen wirken würden.
In meinem Ausgangspunkt gehe ich von der Annahme aus, dass die Position oder die Argumentation der Neoliberalen in Bezug auf die Soziale Frage bislang noch auf einem relativ stabilen diskursiven Fundament stand. Dies drückt sich darin aus, dass eine auf einem Existenzminimum basierende soziale Absicherung (z.B. Hartz IV) von großen Teilen der Bevölkerung weitgehend akzeptiert, als gerecht und sozial vertretbar aufgenommen wurde. Überspitzt: "In Deutschland muss niemand hungern, Hartz IV liefert allen ein akzeptables, minimales Einkommen und wer mehr möchte, soll arbeiten." Ich möchte dies nicht im Detail diskutieren, aber es sei festgehalten, dass man, sofern man die globalen Ungerechtigkeiten ausblendet (und das tun die meisten Menschen im "Globalen Norden" recht erfolgreich) und sich damit zufrieden gibt, dass einige nicht mehr haben als ein Dach über dem Kopf sowie ein Taschengeld, um sich zu ernähren, während andere im materiellen Wohlstand schwelgen, dann kann man durchaus zu dem logischen Schluss kommen, dass die aktuelle kapitalistische Gesellschaft mehr richtig macht als falsch. Dies impliziert natürlich auch die Akzeptanz der Wachstumslogik: Die Gesellschaft wird immer so lange gerecht und sozial gut vertretbar sein, wie sichergestellt wird, dass die Wirtschaft wächst ("floriert"). Diese Logik ist noch immer weitgehend anerkannt, wird sie doch im Prinzip von der Bundesregierung und allen größeren Parteien, mit Ausnahme der Linken und mit Einschränkung auch der Grünen, so vertreten und propagiert. Hauptziel seit 2008: Aus der Krise kommen durch Wirtschaftswachstum (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Wahlplakat der CDU zur Bundestagswahl 2013 (böse Zungen behaupten dies sei nicht nur das Wahlplakat, sondern das gesamte Wahlprogramm).
Diese Akzeptanz der Wachstumslogik und der auf dem Minimalprinzip basierenden sozialen Absicherung und der folgerichtige Schluss, dass die Bundesregierung im Großen und Ganzen ja doch ganz gute Arbeit leistet, dass es "Deutschland gut geht", wie die Bundeskanzlerin im Wahlkampf nicht müde wurde zu betonen, beruht meiner Ansicht nach auf der weitgehenden Ausblendung der Wirklichkeit, vor die uns die Ökologischen Frage stellt. Offenbar ist es der Bundesregierung und dem Großteil der Bevölkerung zu eigen, Ökologie/Nachhaltigkeit als getrennten Handlungsbereich anzusehen, der im Wesentlichen nichts mit dem Sozialen und der Wirtschaft zu tun hat. Wie sonst könnten sie über die Widersprüche ihres eigenen Handelns derart hinwegsehen?
Wirtschaftsfeind Kapitalismus
Im Gegensatz zur allgemeinen Vermutung, dass es die "Exzesse" oder der "Überkonsum" von einigen wenigen "Umweltsündern" sein müssen, die für die Zerstörungen an der natürlichen Umwelt verantwortlich sind, weisen Peet, Robbins und Watts (2011: 14) jedoch darauf hin, „that something scarcely credible might indeed be happening: ‚normal‘ production and consumption destroy the natural environment, historical origin and material source of human existence“. Um dies zu veranschaulichen liefern sie im Anschluss das Beispiel des Wirtschaftswachstums, das bislang immer mit dem Anstieg der Emissionen von Treibhausgasen korreliert hat. Entsprechend war die außergewöhnliche Reduktion der globalen Treibhausgasemissionen um 5,9 Prozent zwischen 2008 und 2009 nicht etwa Ergebnis vorbildlicher Bemühungen im Rahmen des Kyoto-Protokolls, sondern eine Folge der Wirtschaftskrise (ebd.: 22).
Wenn wir diesen Zusammenhang und die Ökologische Frage im Ganzen ernst nehmen wollen, sollten "wir" - die Allgemeinheit - nicht mehr ausblenden, dass es nicht nur die Exzesse, sondern die "normalen" und weitgehend akzeptierten Wirtschaftspraktiken sind, die die eigentliche Bedrohung darstellen. Die logische Folge daraus ist dann unweigerlich, dass die aktuelle Situation alles andere als im Sinne der Allgemeinheit, also der Lebewesen dieses Planetens, ist. Folglich, und daraus ergibt sich mein Kernargument, kann eine neoliberale Sozialpolitik, die auf konventionellem Wirtschaftswachstum basiert, auch nicht als "sozial" bezeichnet werden. Neoliberale Gouvernementalitätsformen und daraus abgeleitete Wirtschaftspraktiken sind daher in ihrer bisherigen Gestalt, so könnte man schlussfolgern, eine a-soziale Bedrohung und dürfen zukünftig nicht mehr Grundlage der Regierung sein.
In diesem Lichte hätte auch Anne Wills Diskussionsrunde ("Franziskus verteufelt Kapitalismus - Muss Deutschland umdenken?") anders ausfallen können. Wie ich oben bereits angedeutet habe, verebbt die in Anke Domscheit-Bergs Beitrag aufgeworfene Soziale Frage im Sande, als Anne Will mit einer Gegenfrage antwortet, die leider wenig inhaltlichen Bezug zum Gesagten hat. Ich habe versucht zu zeigen, dass dies auch mit der diskursiven Dominanz kapitalistischer Argumentationsweisen (Gibson-Graham 1996, 2006) zu tun haben kann, die wiederum dafür verantwortlich ist, dass seit 1990 in der Öffentlichkeit wenig(er) über Soziales debattiert wurde und die Bundesregierung auch heute noch auf Akzeptanz stößt, wenn sie Wirtschaftwachstum als Sozialpolitik preist. Die Kulturelle Frage scheint mir in dieser Konstellation lediglich eine ablenkende Wirkung zu haben. Sie führt dazu, dass beträchtliche Teile der Bevölkerung soziale Probleme auf das kulturell Fremde zurückführen. Wenn es "die Anderen" zu sein scheinen, die Unordnung verbreiten, bleibt wenig Raum, um darüber nachzudenken, was im "Eigenen" neu zu ordnen und zu verbessern wäre.
Betrachtet man die Soziale Frage hingegen im Lichte der Ökologischen Frage, stellt sich die Situation anders dar. Die nach 1990 so alternativlos erscheinende Wirtschaftsweise, die uns alle zu Kapitalist_innen macht, mit ihrem Mantra des Wirtschaftswachstums, kann jedoch ihren Schein der Heiligkeit verlieren, gegen den ja sogar der Papst nur schwer ankommt, weil er in ihrem Glanze implizit als Blasphemiker am Kapitalismus erscheint. "Die Wirtschaft" in ihrem aktuellen Zustand verliert dann ihre Heiligkeit, wenn wir bedenken, dass das neoliberale Sozialkonzept nur kurzfristig funktioniert. Nur kurzfristig gesehen sind es die Rüstungs-, Luftfahrt- und Automobilindustrien sowie die Atomkraft-, Kohlekraft-, Agrochemie- und Gentechnikbranchen, die unsere Gesellschaft mit ihrer Kraft zusammen halten, also eine soziale Aufgabe (Sicherung der Produktion und des Konsums) erfüllen. Diese allgemein akzeptierte Wirtschaft produziert neben den geläufigen, erwerblichen Produkten auch den massenhaften Tod von Bienen, die wir brauchen, um den Großteil unserer Lebensmittel herzustellen; sie produziert Orkane namens Xaver und namenlose Taifune gegen namenlose Philippinos; sie produziert zwar keine Tsunamis, ist aber doch für die radioaktive Verseuchung das Pazifischen Ozeans verantwortlich; sie produziert die Waffen, mit denen US-Soldaten in Afghanistan und im Irak töten und mit denen gerade die Al-Kaida-Soldaten die verzweifelten Menschen im winterlichen Syrien vor dem Kältetod "bewahren". Doch genug des Zynismus.
Declaration of Dependence: Die Soziale Frage lebt!
Der springende Punkt ist: Mit der Ökologischen Frage wird die Art und Weise, wie die Neoliberalen (inkl. die Bundesregierung) die Soziale Frage beantworten, unhaltbar. Anstatt uns also von einer Kulturellen Frage ablenken zu lassen, die die kapitalistischen Wirtschaftspraktiken zur unverzichtbaren Identität der "Guten" erklärt, sollten wir vor dem Hintergrund der Bedrohung unserer Lebensgrundlage durch dieselben Wirtschaftspraktiken, den Spieß umdrehen und von nun an behaupten, dass es gerade die kapitalistische Dominanz ist, die unserer Wirtschaft, unserer Ökonomie (gr.: oikos = Haushalt, Verwaltung und nemein = lenken, verwalten) schadet. In ihrer Widersprüchlichkeit schwächt und bedroht sie unsere Fähigkeit, unsere Existenz zu sichern und in Zukunft ein Leben in erarbeitetem Wohlstand zu führen. Sie ist eine Gefahr, die die soziale Ungleichheit, die der Papst "verteufelt" impliziert, aber noch über sie hinausgeht. Die natürliche Lebensgrundlage lässt sich nicht mit Geld wiederherstellen. Klimawandel und andere Bedrohungen treffen die Armen zwar im Besonderen, aber es wäre naiv anzunehmen, dass dies nicht auch die gesamte Gesellschaft, nicht in irgendeiner Weise auch die Eliten träfe.
Vielleicht würde es dem Gemeinwohl zuträglich sein, nicht immer nur die Unabhängikeit von diesem und jenem zu erklären, sondern einmal eine imaginäre Abhängigkeitserklärung zu unterzeichnen, die uns an unsere Relationalität erinnert, also daran, dass wir, wenn wir alle Maßstabsebenen zwischen global und lokal zusammen betrachten (und alle großbuchstabigen Fragen - ob sozial, kulturell oder ökologisch), tatsächlich alle "in einem Boot" sitzen, und dass die Interessen meines Gegenübers demnach immer auch ein Stück weit meine eigenen sein müssen. Den Mehrwert von anderen Lebewesen der von der natürlichen Umwelt abzuschöpfen, kommt uns also nicht notwendigerweise selbst zugute. Anders gesagt: Eine Mehrheit geht leider noch immer davon aus, dass die aktuelle Wirtschaftsweise unsere Gesellschaft insgesamt bereichert und scheinbar nur notgedrungen mit Ungleichheit, Abgrenzung, Differenz und Trennung arbeitet, also die Unabhängigkeit propagiert; ob dies nun bedeutet die Guten von den Bösen, die Reichen von den Armen zu trennen oder die Wirtschaft als etwas Unabhängiges vom Sozialen oder Ökologischen zu konstituieren. Dadurch gelingt es dieser Mehrheit (noch) nicht, die relationalen Verflechtungen zwischen uns allen, d.h. unsere gegenseitige Abhängigkeit voneinander, anzuerkennen, geschweige denn darin eine Form des Reichtums, der Sicherheit und Befriedigung zu erkennen, nämlich die Möglichkeit, in Gemeinschaft produktiv tätig zu werden. Nach all den individuellen Unabhängigkeitserklärungen würde eine ergänzende Abhängigkeitserklärung vielleicht, dass notwendige Gleichgewicht herstellen, um letztlich ohne diese Dichotomien auszukommen. Ja, liebe Anne Will, Deutschland muss umdenken!
Referenzen:
Bachmann-Medick, Doris (2006). Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg.
Bauriedl, Sybille; Wissen, Markus (2002). Nachhaltigkeit als Konfliktterrain. Post-fordistische Transformation und Repräsentationen von Natur in der Metropolregion Hamburg. In: geographische revue, 4 (2002), 2, S. 35–55.
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Sarrazin, Thilo (2010). Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München.
Strüver, Anke; Reuber, Paul (2009). Diskursive Verräumlichungen in deutschen Printmedien – das Beispiel Geopolitik nach 9/11. In: Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hrsg.). Mediengeographie. Theorie - Analyse - Diskussion. Bielefeld, S. 315–332.