Zum Tod von Muammar al-Gaddafi: Die Tötungskultur des Westens

20.10.2011 – Noch vor wenigen Jahren war die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis geächtet. Wir stellten uns über Länder wie Indien und sagten überheblich: „Dort ist ein Menschenleben nichts wert“. Wir hielten uns viel darauf zugute, dass unsere „christlich-abendländische Leitkultur“ uns so deutlich von der Barbarei in anderen Gebieten der Erde unterschied.

Zum Tod von Muammar al-Gaddafi: Die Tötungskultur des WestensHeute wurde Muammar al-Gaddafi in Sirte von den Truppen der Übergangsregierung getötet. Verwackelte Aufnahmen von Handy-Kameras zeigen die letzten Augenblicke im Leben des Mannes, der noch vor wenigen Monaten von aller Welt als eigenwilliger Staatschef hofiert wurde.

Wer heute die Bilder betrachtet hat, auf denen man sehen konnte, wie Gaddafi halbnackt, angeschossen, blutüberströmt und halb bewusstlos von einer johlenden Menge bewaffneter Rebellen durch die Straßen von Sirte gezerrt wurde und sich angesichts dessen über einen Sieg der Freiheit, der Menschenrechte und der Demokratie freut, der macht es sich zu einfach.

Zum Tod von Muammar al-Gaddafi: Die Tötungskultur des Westens

Im Zweifel mit Gewalt

Als Angela Merkel Anfang Mai diesen Jahres ihrer Freude über die Tötung Osama Bin Ladens Ausdruck verlieh und in diesem Zusammenhang von einem „Erfolg für die Kräfte des Friedens“ sprach, da markierte ihre Äußerung den Abschluss eines kulturellen Wandels. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war es gesellschaftlich akzeptiert, den Tod eines Menschen billigend in Kauf zu nehmen, wenn pragmatische Argumente für die Alternativlosigkeit der Tötung sprechen.

Begonnen hatte dieser Wandel damit, dass Bundespräsident Horst Köhler zu offen über Kriege aus wirtschaftlichen Gründen gesprochen hatte und in der Folge der sich hieraus entwickelnden Debatte zurücktrat. Als Karl-Theodor zu Guttenberg kurze Zeit später im Zusammenhang mit dem Afghanistan Einsatz der deutschen Bundeswehr von einem Krieg sprach, da war, zumindest aus der Mitte der Gesellschaft, kein Aufschrei zu vernehmen.

Als Guttenberg mit der Abschaffung der Wehrpflicht den ersten Schritt zur Umwandlung der früheren Verteidigungsarmee in eine schlagkräftige Truppe für mehrere gleichzeitige, internationale Einsätze absolvierte, zeigten sich Beobachter allenfalls erstaunt darüber, das dieser Vorschlag ausgerechnet aus der Union stammte. Der hinter dieser Entscheidung stehende Paradigmenwechsel – die Bundeswehr wird auf ihre Rolle als Angriffsarmee vorbereitet – blieb wiederum weitgehend unkommentiert.

Abgesehen von DER LINKEN setzt sich keine Partei für einen umgehenden und bedingungslosen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ein. Die Tatsache, dass in Afghanistan Tag für Tag Menschen, darunter viele Zivilisten und Kinder, getötet werden, fließt nicht in die Beurteilung der dortigen Lage und der Rolle der deutschen Bundeswehr ein. Stattdessen werden politische, militärische und wirtschaftliche Erfolgspotenziale gegeneinander abgewogen. Am Ende dieses Prozesses steht das Akzeptieren von Krieg, Mord und Vertreibung als legitimes Mittel politischen Handelns.

Zum Tod von Muammar al-Gaddafi: Die Tötungskultur des Westens

Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Die Rechtfertigung für unser aggressives Eingreifen in fremde Systeme sehen wir in unserer vermeintlichen Vormachtstellung, die auf den Wertbegriffen Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie beruhen soll. Wir akzeptieren Eingriffe in Systeme, von denen wir glauben, dass sie gegen diese Werte verstoßen. Wir exportieren unsere Wertvorstellungen, indem wir auf fremden Territorien selber gegen Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verstoßen.

Wenngleich sich die Bundesregierung in der Frage des militärischen Eingreifens in Libyen enthalten hat, herrscht ein breiter Konsens darüber, dass wir es für gutheißen, die libyschen Rebellen im Kampf gegen den früheren Staatschef und jetzigen Diktator Gaddafi unterstützen. Der Außenminister wurde für die Enthaltung erst angegriffen, nachdem die libysche Übergangsregierung deutlich gemacht hat, dass wirtschaftliche Opportunitäten im künftigen Libyen von der jeweiligen Position der einzelnen Staaten während des Bürgerkriegs abhängig gemacht werden.

Wir fiebern seit Monaten mit, wenn die Medien über ein weiteres Vorrücken der Rebellen berichten. Wir nehmen in Kauf, dass unter der Mitwirkung der NATO und unserer Verbündeten und unter Einsatz unserer Waffensysteme und Kriegstechnologien täglich Menschen getötet werden. Wir halten das Eingreifen für gerechtfertigt, weil wir Gaddafi für einen verbrecherischen Diktator und die Rebellen für aufrechte Demokraten halten wollen. Dieses polarisierende Bild ist mittlerweile in unseren Köpfen so tief verankert, dass wir keinen Anstoß daran nehmen, wenn Anhänger der Übergangsregierung, teilweise mit modernsten Maschinengewehren von Heckler und Koch ausgestattet, als unbewaffnete Rebellen bezeichnet werden, wenn Krankenhäuser, Schulen und Privathäuser bombardiert oder wenn Gaddafis Kinder und Enkelkinder getötet werden.

Wir sehen darüber hinweg, dass es sich bei vielen Angehörigen der Übergangsregierung um ehemalige Minister und hohe Staatsbeamte Gaddafis handelt, die rechtzeitig die Seite gewechselt haben. Während wir Rechtssysteme, die auf der Scharia basieren, argwöhnisch als akute Bedrohung unserer Freiheit beäugen, nehmen wir es gelassen zur Kenntnis, wenn der Übergangsrat das künftige Libyen auf exakt dieser Rechtsgrundlage errichten will.

Zum Tod von Muammar al-Gaddafi: Die Tötungskultur des Westens

Halbnackt, angeschossen, blutüberströmt

Solange mit der Akzeptanz eines Systems wirtschaftliche oder strategische Vorteile verbunden sind und solange wir unsere Waffen verkaufen und unsere Gier nach Rohstoffen befriedigen können, solange sehen wir großzügig über Menschenrechtsverletzungen, über diktatorische Unrechtsregimes und über Mord, Folter und Verfolgung hinweg.

So haben wir Gaddafi über Jahre und Jahrzehnte mit Waffen beliefert, weil er uns im Gegenzug mit Öl versorgt und uns die Flüchtlingsströme aus Afrika vom Hals gehalten hat. Und so beliefern wir jetzt Saudi Arabien mit Panzern oder Angola mit Patrouillenbooten und hofieren offiziell Diktatoren in aller Welt.

Wer heute die Bilder betrachtet hat, auf denen man sehen konnte, wie Gaddafi halbnackt, angeschossen, blutüberströmt und halb bewusstlos von einer johlenden Menge bewaffneter Rebellen durch die Straßen von Sirte gezerrt wurde und sich angesichts dessen über einen Sieg der Freiheit, der Menschenrechte und der Demokratie freut, der macht es sich zu einfach.

Zum Tod von Muammar al-Gaddafi: Die Tötungskultur des Westens

Ein “demokratischer” Neuanfang

Wenn wir etwas gegen einen Menschen, sei es ein Despot, ein Terrorist oder ein Schwerverbrecher vorzubringen haben, wenn es nachvollziehbare Anzeichen für Rechtsbrüche und Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt, dann müssen wir den Verdächtigen vor ein Gericht stellen. Dort müssen Vorgänge aufklärt, Beweise objektiv bewertet und Verbindungen aufgedeckt werden. Dort muss der Beschuldigte die Möglichkeit haben, sich zu rechtfertigen und zu verteidigen.

Stellt sich im Rahmen des Verfahrens die Schuld des Angeklagten heraus, dann muss er mit einer angemessenen Haftstrafe belegt werden. Ist er unschuldig, dann muss er freigelassen und rehabilitiert werden. Stellt sich im Laufe des Verfahrens heraus, dass weitere Personen an den vorgeworfenen Taten beteiligt waren, dann muss dem nachgegangen werden.

Dies wäre im Fall Osama Bin Laden ebenso angemessen und erforderlich gewesen, wie im Fall von Muammar al-Gaddafi. Dies umso mehr, wenn wir unsere Position glaubwürdig mit dem Verweis auf Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie rechtfertigen.

Versäumen wir dies, dann sind wir nicht besser als diejenigen, denen wir Gräueltaten vorwerfen, deren Länder wir mit Krieg übersähen und die wir in der öffentlichen Berichterstattung jenseits der „Achse des Bösen“ verorten.

Die ersten Reaktionen deutscher Politiker auf den Tod von Gaddafi sind beschämend, weil sie sich ausschließlich mit den wirtschaftlichen Chancen im künftigen Libyen beschäftigen.

Philipp Mißfelder (CDU) äußert sich heute über die deutsche UN-Enthaltung:

“Die Entscheidung war nicht richtig. Ich hoffe, dass dies ein einmaliger Vorgang bleibt. Im Zweifel wünscht man sich im UNO-Sicherheitsrat, dass Deutschland auch bei Unsicherheiten nicht mit Russland, China, Brasilien und Indien gemeinsam entscheidet, sondern mit unseren traditionellen guten Freunden und Partnern: Amerika, Frankreich und Großbritannien.”

Die bisherigen deutschen Geschäftsbeziehungen mit Gaddafi verteidigt der außenpolitische Sprecher der CDU:

“Es ist richtig, dass es wirtschaftliche Kooperationen mit Libyen gegeben hat, denn es gab auch einen Wandel in der Politik Gaddafis selbst. Deutschland konnte sehr gute Geschäfte mit Libyen machen, und das ist auch in Ordnung. Wir sind eine Industrienation, und im Spannungsbogen von werte- und interessengeleiteter Außenpolitik spielen wirtschaftliche Interessen immer eine große Rolle. Alles andere wäre naiv.”

Der außenpolitische Sprecher der SPD, Rolf Mützenich, kommentiert den Tod Gaddafis heute so:

“Durch ihr Abstimmungsverhalten hat die Bundesregierung jetzt wenige Möglichkeiten, auf die Partner einzugehen, die sich damals an der Koalition gegen Gaddafi beteiligt haben.”

Kein Wort über die unzähligen Menschenleben, die der Konflikt gekostet hat, kein Wort darüber, dass Gaddafi, entgegen jeglicher Rechtsmaßstäbe, hingerichtet wurde, statt vor ein Gericht gestellt zu werden. Stattdessen kalt-pragmatische Überlegungen und Erwägungen über die künftigen Möglichkeiten Deutschlands, sich an der libyschen Situation zu bereichern, Geschäfte abzuschließen und Marktanteile am libyschen Kuchen zu erheischen.

Und die Kanzlerin übt diesmal Zurückhaltung: Sie lässt Regierungssprecher Seibert twittern:

“Kanzlerin: Mit heutigem Tag ist Weg f. demokratischen Neuanfang in #Libyen endgültig frei. DE zur Unterstützung bereit.”

Ein demokratischer Neuanfang, der mit der Ermordung eines Verdächtigen beginnt, dessen Auftritt vor einem Gericht sich für viele seiner ehemaligen Verbündeten sehr kritisch hätte gestalten können. Angela Merkel lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass wir eine westliche Tötungskultur erreicht haben, die es uns erlaubt, die Ermordung von Menschen mit exakt den Werten zu rechtfertigen, mit deren Nichteinhaltung wir deren Verfolgung begründen: Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.


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