Zu Ohren gekommen

Unsere Epoche scheint beispiellos zu sein. Jedenfalls könnte man diesen Eindruck erlangen, wenn man so hört, was die Medien alles verbeispiellosen. Jede Woche ein neuer Fall von beispielloser Tragweite. Zuletzt waren es die demographische Entwicklung, die NSA-Affäre oder Hartz IV als Erfolgsmodell. Alles ohne Beispiel. Derzeit firmieren unter diesem Etikett Artikel zu einem Hochhaus-Abbruch in Bockenheim - und so gut wie alle Empfehlungen für diverse Kandidaten für den Friedensnobelpreis sind mit diesem Adjektiv ausgestattet. Dieses Bemühen des Wortes beispiellos ist wirklich beispiellos.

Es handelt sich hier um ein Adjektiv der allgemeinen Alternativlosigkeit. Wer an politische Entscheidungsfragen mit der neoliberalen Losung Es gibt keine Alternative! herantritt, der ist natürlich darum bemüht, die Gründe seiner Entscheidung so auszumalen, dass sie möglichst keine andere Entscheidung zulassen. Wenn zum Beispiel (!) die Arbeitsmarktsituation beispiellos schlecht ist - wie um das Jahr 2000, als Deutschland zum kranken Mann geschrieben wurde -, dann ist die Entscheidung namens Hartz IV quasi alternativlos. Deswegen wehren sich die Befürworter der Agenda 2010 gerne gegen die Kritik, die diese Beispiellosigkeit leugnet oder wenigstens in Zweifel zieht. Denn wer daran zweifelt, dass es ähnliche Beispiele noch nie gab, der macht die logische Konsequenz aus alternativlosen Handeln heraus auch anstössig.
Die Rettung des Euro ist auch so ein beispielloser Vorgang - oder sagen wir so: Der Vorgang ist alternativlos, aber die Gründe, die zu einer Rettung auf Basis dieser Austeritätspolitik führten, die erklärt man für beispiellos. So sieht eine grundlegend falsche Politik plötzlich ganz anders aus. Besser und richtiger. Und selbst wenn Menschen dann zweifeln an dieser Politik, kann man ja sagen: Leute, die Sache war so beispiellos, wir wussten es eben nicht besser, aufgrund fehlender Beispiele in der Geschichte. Bei allgemeiner Beispiellosigkeit kann man auch mal geschichtsvergessen sein. Und da die gewaltsamen Übergriffe an Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Sozialisten damals so beispiellos waren, kann man heute auch so beispielhaft gegen die ins Land kommenden Roma wettern oder gegen Moslems hetzen.
Die "mathematisch Formel namens beispielloses Szenario = alternativlose Reaktion" ist Ausdruck einer politischen Mentalität, die bereit ist, alles in einen Zustand der Singularität zu befördern. Geschichte als Reservoire menschlichen Erfahrungsschatzes verblasst da. Passend dazu wird der Geschichtsunterricht an Schulen geschrumpft. Wenn alles singulär erscheint, also kein Beispiel findet in ähnlichen Konstellationen, dann ist jede Maßnahme letztlich vielleicht richtig. Und die Verbrämung zur alternativlosen Handlung ist nicht mehr weit. Vieles was in der modernen Welt geschieht mag tatsächlich ohne Beispiel sein - oder sagen wir: ohne adäquates Beispiel. Aber die stetige Benutzung von beispiellos ist ein Freifahrtschein für beispiellose Politik. Es ist ein Modewort einer Epoche, die beispiellose Sensationsgier mit beispielloser Geschichtsvergessenheit paart und dabei beispiellose Alternativlosigkeit gebiert.
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