Zu Fuß von Berlin zum Nordkap

Tagebuch einer etwas längeren Wanderung

Hallo, mein Name ist Philipp. Ich lebe in Berlin und arbeite als Arzt - normalerweise jedenfalls ... Doch im Jahr 2016 habe ich für fünf Monate den Alltagstrott Alltag sein lassen, um mir den langgehegten Traum einer richtig langen Wanderung zu erfüllen. Und zwar zu Fuß von Berlin zum Nordkap, 3.325 km in 150 Tagen.

Das bin ich am 13. März 2016 kurz hinter der Berliner Stadtgrenze. Auf meinem Rücken lasten 20 kg und vor mir liegen gut 3.300 km. Wenn mich Spaziergänger fragen, wohin ich unterwegs bin, antworte ich nur „Nach Rostock". An den Rest kann ich selbst noch nicht glauben.

Nach so mancher bitterkalten Nacht im brandenburgischen Kiefernwald und immer wieder herrlichem Abendrot über mecklenburgischen Seen erreiche ich den Rostocker Hafen. Gegen 22 Uhr legt die Fähre nach Schweden ab und früh am Ostersonntagmorgen stiefele ich gut gelaunt durch die menschenleere Fußgängerzone von Trelleborg weiter Richtung Norden. Inzwischen fühle ich mich schon ein bisschen sicherer. Vielleicht, ja ganz vielleicht werde ich im August am Nordkap sein.

Die Landschaft Schonen im äußersten Süden von Schweden ist für skandinavische Verhältnisse ziemlich dicht besiedelt. Viel anders als auf unserer Seite der Ostsee sieht es nicht aus: Felder, Weiden, kleine Wäldchen und eingebettet zwischen sanften Hügeln hier und da ein Gehöft oder Dorf. Nur dass durch die vielen dunkelrot gestrichenen Holzhäuser alles ein bisschen an Bullerbü erinnert. Zwar ist das Wildzelten, wie überall in Schweden auch hier erlaubt, jedoch ist es schwierig, wirklich einsame Plätze zu finden.

Ich bin froh, als ich endlich Småland erreiche. Hier beginnt die Region der ausgedehnten Seen und endlosen Nadelwälder. Mittlerweile ist es Mitte April, doch auf den Frühling warte ich vergeblich. Selbst schuld, denke ich mir, denn im Grunde genommen laufe ich ihm mit jedem Schritt nach Norden ein Stück davon. Natürlich gibt es Sonnentage, sogar gar nicht selten, aber früh morgens klappern immer noch Eiswürfel in meiner Trinkflasche. Schlaftrunken zittere ich vor mich hin, bis ich mich endlich fluchend und schreiend überwinde aus den Nachtklamotten heraus und in das nasskalte Wanderoutfit hineinzuschlüpfen. Und dennoch ist es wunderschön, wenn die ersten Vogelstimmen erklingen und die Tautropfen im Morgenlicht glänzen, als sei jedes Blättchen, jede Tannennadel und jeder Grashalm von Perlen und Edelsteinen überzogen.

Am Abend der Walpurgisnacht feiere ich mit einer extra großen Portion Nudeln mit Tomatensauce meine ersten 1.000 km. Rings herum sehe ich nah und fern die Maifeuer auflodern. In Schweden ist es Brauch, auf diese Weise den Winter auszutreiben. Es scheint zu funktionieren, denn für die nächsten 2 Wochen habe ich Frühlingswetter und Sonne satt. Es wird so warm, dass ich meine Schokoriegel aus dem Papier schlürfe und ohne Zelt unter freiem Himmel schlafe.

Doch als ich Mitte Mai die Berge erreiche, kommt der Winter zurück. Mit jedem Meter, den ich an Höhe gewinne, wird es kälter und in den Senken tauchen erste Schneereste auf.

Ich stapfe tagelang über das tief verschneite Fulufjäll und wünsche mir nichts sehnlicher als ein paar Skier. Die Wegmarkierungen liegen noch tief unter der Schneedecke verborgen. Einige Male bin ich kurz davor, auf den grenzenlosen weißen Flächen die Orientierung zu verlieren und mir wird ganz schön mulmig.

Ich mache drei Kreuze, als ich zurück auf der Straße bin. Kilometer um Kilometer schlängelt sich das graue Asphaltband durchs südliche Jämtland. Eines der wenigen Autos, die vorbeikommen, hält neben mir an. Eine Frau steigt aus und kommt lächelnd auf mich zu. Ich zögere immer noch zu sagen, wohin ich unterwegs bin. Doch plötzlich ist es raus: „Zum Nordkap!" „Und wo bist du los?" fragt sie. „Berlin" stottere ich und finde meinen Auftritt wenig überzeugend. Doch sie glaubt mir, und nicht nur das: der Zufall will es, dass sie Journalistin bei der hiesigen Tageszeitung ist. Fotoshooting und Interview im Nieselregen, und schon am nächsten Abend finde ich in meinem Postfach den Link zu ihrem Artikel über mich. Während der nächsten Tage bleiben immer wieder Autofahrer neben mir stehen und wollen wissen, ob ich der Deutsche aus der Zeitung sei. Ich komme mir ein bisschen vor, wie eine lokale Berühmtheit.

Anfang Juni geht es zurück in die Berge. Zum Glück hat sich während der letzten 14 Tage Einiges getan. Zwar liegt hier und da noch Schnee, aber verlaufen kann ich mich nicht mehr, denn die Wanderwege sind größtenteils frei.

Nur die Flussüberquerungen bereiten mir einige Probleme: Die Schneeschmelze lässt das Wasser mächtig über die Ufer treten. Brücken sind hier und da weggerissen und kleine Rinnsale werden zu tosenden Gebirgsbächen. Immer wieder stehe ich auf meinen Wanderstock gestützt bis übers Knie in den Fluten, setze wackelig einen Fuß vor den anderen und wundere mich, dass Wasser so kalt sein kann und trotzdem noch flüssig ist.

Meinen 35. Geburtstag feiere ich ganz allein hoch oben. Die einzigen Gäste sind ein paar Rentiere, die rund um mein Zelt vor sich hin grasen.

106 Tage und 2.265km hinter Berlin entdecke ich am Fuß eines felsigen Abhanges zwischen krüppeligen Birken ein ganz unscheinbares Holzschildchen. „ Polcirkeln" steht darauf. Natürlich war mir klar, dass ich, wenn ich weiter stur einen Fuß vor den anderen setze, irgendwann am Polarkreis stehen würde, dennoch fühlt es sich vollkommen unwirklich an. Ich schaue an meinen matschbespritzen Hosenbeinen hinab auf meine schlammverkrusteten Schuhe und kann einfach nicht glauben, dass meine Füße mich bis hierhergetragen haben.

Es ist Sommer. Nacht für Nacht verbringe ich unter der strahlenden Mitternachtssonne. Die Urlaubssaison hat begonnen, und tagsüber begegnen mir reichlich andere Wanderer. Kein Wunder, ich bin auf dem Kungsleden. Das ist ein gut markierter Pfad, der sich über 400 km weit durch den nördlichen Teil des schwedischen Hochgebirges zieht. In regelmäßigen Abständen gibt es Hütten, manche sogar mit Proviantverkauf. Zum Glück, denn meine Vorräte gehen langsam zur Neige. In Abisko, kurz vor der norwegischen Grenze, stoße ich auf den ersten Supermarkt seit knapp 600 km und schlage mir ordentlich den Bauch voll.

Die Nordkalottruta führt mich über Norwegen bis zum äußersten nordwestlichen Zipfel Finnlands. Hier oben scheint die Welt nur noch aus Felsen zu bestehen, Bäume gibt es so gut wie keine mehr. Eine Mondlandschaft folgt der nächsten. Ich kraxele im Schneckentempo von einem Gesteinsbrocken zum nächsten und fühle mich winzig klein. Nachts heult der Sturm, meine Träume drehen sich um zerfetzte Zeltplanen und immer wieder schrecke ich auf und starre ängstlich auf das Gestänge über mir, das sich ächzend durchbiegt.

Im norwegischen Reisadalen wächst wieder dichter Wald und die spätherbstliche Fröstelei schlägt in tropische Hitze um. Kein Lüftchen regt sich und eine drückende Schwüle lastet über allem. Plötzlich habe ich ein ganz neues Problem: Mücken! Die Welt verschwimmt hinter den Maschen meines Moskitonetzes und ich überlege mir dreimal, wann und ob ich es zum Trinken oder Essen lüfte.

In Alta ist Schluss mit Wildnis. Von jetzt an werde ich längs der Straße laufen. Eine Entfernungstafel verkündet: „ Nordkap 229 km." Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Es ist als rüttele mich jemand wach, um mir zu sagen, dass das hier kein Traum ist, sondern dass ich wirklich so gut wie angekommen bin. Ich setze mich ins Gras und weine leise vor mich hin: vor Freude!

Die letzte Herausforderung vorm Ziel ist der knapp 7 km lange Tunnel, der auf die Nordkap-Insel Magerøya hinüberführt. Der Randstreifen ist schmal und die Beleuchtung spärlich. Es ist nicht verboten hindurch zu laufen, aber ob es eine gute Idee ist, weiß ich nicht. Der vorbeidonnernde Verkehr hallt entsetzlich laut an den Wänden wider, und jeder Lastwagen lässt den Boden unter meinen Füßen erzittern. Riesige Entlüftungsanlagen machen ohrenbetäubenden Lärm, und dennoch riecht es penetrant nach Tiefgarage. Meine Ankunft auf Magerøya ist alles andere als glorreich. Ich taumele in die nächstbeste Haltebucht neben dem Ausgang und japse ein paar Minuten lang nach Luft.

9. August 2016: Da ist sie die metallene Weltkugel auf dem schwarzen, schroff ins Meer ragenden Felsen. Ich stehe direkt davor. 150 Tage lang habe ich mir diesen Augenblick immer wieder vorgestellt. Und jetzt? Wohnmobile, Motorräder, Reisebusse, ein paar Fahrradfahrer und ich - der einzige Wanderer. Ich falle auf. Menschen kommen auf mich zu und fragen, wo ich herkomme. Ich kann noch gar nicht begreifen, dass ich wirklich hier bin und antworte seltsam ungerührt. Entgeisterte Blicke und anerkennendes Schulterklopfen. Manche schießen Fotos von mir, andere schauen von Weitem zu, stecken die Köpfe zusammen und zeigen mit dem Finger in meine Richtung. Ich komme mir vor wie ein Tier im Zoo. Nach kurzer Zeit weiß hier jeder, dass ich von Berlin bis zum Nordkap gelaufen bin. Nur ich selbst begreife es nicht.

Gegen Abend zieht ein heftiger Sturm auf. Die meisten Besucher verschwinden. Ich trete bis ganz an die Kante der Klippe heran. Tief unter mir brechen sich die Wellen. Hier geht es wirklich nicht mehr weiter. Bitterkalter Nieselregen klatscht mir ins Gesicht, die Luft schmeckt salzig. Ganz langsam durchdringt mich die Erkenntnis, dass ich wirklich bin, wo ich bin: Am Nordkap!

Weiterführende Links

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