Nach einer längeren Pause gibt es heute noch mal ein Sonntagszitat. Dies stammt - passend zum gestrigen Jubiläum „Dreißig Jahre Mauerfall" - aus dem großartigen Kinderbuch beziehungsweise Hörbuch „Gertrude grenzenlos" von Judith Burger.
Die Geschichte um die beiden Freundinnen Ina und Gertrude spielt in der DDR der späten siebziger Jahre. Als Gertrude frisch in Inas Klasse kommt, ist diese sofort fasziniert von ihrer neuen Klassenkameradin. Gertrude trägt Westklamotten, gehört nicht zu den Jungpionieren und verhält sich ziemlich auffällig - so ganz anders als die anderen Kinder. Obwohl die Eltern den Kontakt der beiden Mädchen verhindern möchten, werden Ina und Gertrude bald allerbeste Freundinnen. Freundinnen, die gemeinsam sowohl durch dick und dünn als auch durch den oft einengenden Alltag ihrer Republik gehen. Vor allem die freidenkende Gertrude hat es dabei nicht immer leicht. Nachdem ihre Eltern einen Ausreiseantrag gestellt haben, wird sie mehr und mehr in die Rolle der Außenseiterin gedrängt, das Leben in der Schule ist für sie ein täglicher Kampf. Doch wie gut, dass sie Ina hat, die ihr treu zur Seite steht - und ebenfalls kämpft: für ihre Freundschaft, für Gertrudes Integration und ihr „gutes" Ansehen.
Ob es den Mädchen gelingt, ihre Freundschaft aufrecht zu erhalten und Gertrude Ruf zu retten, sei an dieser Stelle natürlich nicht verraten. Nur so viel: Eines Tages heißt für Ina und Gertrude, Abschied zu nehmen. Und darunter leidet besonders die feinfühlige Ina. Sie ist verzweifelt. Schließlich gibt es da diese Mauer, die sie dann auf ewig voneinander trennen wird ... Aber Gertrude macht ihrer Freundin Mut:
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Nichts bleibt, wie es ist, Ina. Alles dreht sich, rundherum. ... Vielleicht gibt es auch für uns eine Chance. Vielleicht ändert sich irgendwas. Es ändert sich immer etwas auf der Welt, eigentlich andauernd.
... Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Mauer jemals verschwindet. Wie denn auch? Niemand kann sie einfach einrennen. ... Nur, wenn alle mitmachen, also alle Leute in der DDR, dann vielleicht. Aber soll denn das gehen?
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Aus heutiger Sicht könnte man zu Ina sagen: „Selbstverständlich geht das! Du wirst schon sehen, in ein paar Jahren werden die Grenzen geöffnet. Dann fällt diese Mauer. Dann sind wir alle grenzenlos. Und du kannst deine allerliebste Freundin wiedersehen." Ob die Menschen, die Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger in der DDR lebten, dies ebenfalls so sagen oder hoffen konnten? Meiner Einschätzung nach eher nicht. Ich denke, es ist einfach ein ganz großes Wunder, das sich im Jahr 1989 angebahnt und am 9. November geschehen ist. Eingeleitet durch das Neue Forum, die Friedliche Revolution mit den Montagsgebeten, durch Gorbatschows und Kohls Ein- und Mitwirken. Eingeleitet und ausgeführt von Tausenden DDR-Bürgern, die aufgestanden sind, die friedlich und laut zugleich ihre Stimme erhoben haben.
Die eigentliche Wende und der tatsächliche Mauerfall wird in „Gertrude grenzenlos" nicht thematisiert. Vielmehr sind es das Leben und die Herausforderungen in der ehemaligen DDR, die Judith Burger anspricht und authentisch, lebensnah und teilweise sehr poetisch darstellt, und bei denen immer wieder ein deutlicher Hoffnungsschimmer aufblitzt. Und vor allem ist es die enge und echte Freundschaft zwischen zwei mutigen Mädchen, die dieses (Hör-)Buch so wunderbar, berührend und „liebenswert" macht - nicht nur für junge Leserinnen und Leser ab 10 Jahren.
Ich wünsche euch einen wunderschönen Sonntag-Abend und eine grenzenlos gute Woche!
Herzliche Grüße von