Ihr Lieben,
ich möchte Euch heute Abend eine Geschichte von Nicole Schneider erzählen:
„Der Staudamm“
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Eines Tages hatten Kinder einen Staudamm in einem kleinen Bach erbaut. Kleine Äste, Zweige und Steine behinderten seinen Fluss. Schon häufig auf seinem Weg waren ihm solche oder ähnliche Hindernisse begegnet und jedes Mal war ein Stück seiner Kraft und Zuversicht verlorengegangen.Denn anstatt seine Kräfte zu nutzen, um das Bachbett wieder frei zu räumen oder um neue Bachbetten zu formen, geriet der Bach jedes Mal ins Stocken, staute sich und ließ nur kleine Mengen Wasser durch die Lücken im Staudamm dringen oder sich über das Hindernis hinwegzwängen.
So kennzeichneten nun mehrere kleine Stauseen seinen Verlauf und der Bach war immer kleiner und schwächer geworden. Und vor jedem neuen Hindernis wuchsen die Zweifel an seinen Fähigkeiten und an seiner Kraft. Und dieses neue Hindernis nun ließ seinen Mut endgültig auf den Grund sinken.
Er sammelte sich vor dem Damm und mit ihm all die kleinen Algen und Pflanzenteilchen, die er mit sich trug, und die Fische, die in ihm lebten – jedenfalls die paar, die es bisher noch geschafft hatten, all die Dämme mit einem gewagten Sprung zu überwinden. – Nicht allen war das gelungen. Manche waren auch zurückgeblieben und waren nun eingesperrt hinter den Dämmen.
Nun aber führte der Bach einfach zu wenig Wasser und die Fische saßen fest.„He, fließ, wir wollen hier nicht eingesperrt sein!“, riefen sie dem Bach zu, doch er konnte sie nicht hören, ja, noch nicht einmal spüren, denn er war viel zu sehr damit beschäftigt, resigniert auf den Damm vor sich zu starren.
„Lieber Bach, fließ doch bitte weiter“, riefen ihm jetzt die Blumen und Gräser von der anderen Seite des Dammes zu, „Du hast frisches Wasser, und das würden wir so gerne trinken bei der Hitze!“
„Und frische Algen, wir haben Hunger“, blubberten einige Kaulquappen, die sich im seichten Wasserrest hinter dem Damm gesammelt hatten. Diese Stimmen konnte der Bach zwar hören, doch er starrte weiter auf das Hindernis vor ihm. „Was wissen die denn schon?“, seufzte er innerlich. „Ich kann nicht weiterfließen, es geht einfach nicht.“
„Lass uns frei!“, riefen die Fische noch einmal. Doch ihre Stimmen verklangen wiederum ungehört.Jedoch – nicht ganz ungehört.
„Was ist denn hier los?“, hörte der Bach plötzlich ein zartes, aber erstaunlich energisches Stimmchen, und eine Elfe landete auf dem Damm vor ihm. „Musst Du mich bei meinem Mittagsschlaf stören? Dies Geschrei hält ja keiner aus“, empörte sie sich.
„Geschrei?“, fragte der Bach erstaunt, denn die Blumen, Gräser und Kaulquappen waren inzwischen verstummt und blickten enttäuscht vor sich hin.„Na, aus Deinem Inneren“, erklärte die Elfe. „Wen hast Du da eingesperrt?“ „Eingesperrt?“, fragte der Bach verständnislos.
„Na, hör doch einfach mal in Dich hinein“, erwiderte die Elfe, „Du kannst mir nicht erzählen, dass Du das nicht hörst! Es ist ohrenbetäubend! Und das in der Mittagszeit!“Tatsächlich, jetzt, da er sich bemühte, konnte er Bewegungen in seinem Inneren erahnen, und er konnte wie von weit entfernt Stimmen vernehmen.
„Scheint wirklich so, als wollte da wer freigelassen werden“, sagte er erstaunt, und sofort verfinsterte sich seine Miene noch mehr.„Ja und? Dann lass sie frei!“, riet die Elfe.
„Ich kann nicht! Ich kann solche Hindernisse nicht überwinden“, erklärte er traurig.
„Oh, Du könntest schon“, antwortete die Elfe ein wenig schnippisch. „Wenn Du aufhören würdest, den Damm anzustarren und stattdessen Deine Aufmerksamkeit auf das richten würdest, was in Dir ist und raus will, und auf das, was Dich hinter dem Damm erwartet.
Du würdest dann nämlich vielen eine Freude machen und vor allem auch Dir selbst etwas Gutes tun, weil Du hier hinter dem Damm all Deine Kraft und Lebensfreude verlierst. Die Algen werden vermodern und fangen an zu stinken, und die Fische werden faul und träge! Wenn Du das Hindernis überwindest, wirst Du wieder all Deine Kraft und Lebensfreude spüren und neue Nahrung von den Ufern mitnehmen.“Damit erhob sie sich und flog davon.
„He, warte, wie meinst Du das?“, rief der Bach, doch die Elfe war schon verschwunden.
Er kräuselte seine Oberfläche zu kleinen Wellen und dachte über die Worte der Elfe nach. Währenddessen stieß einer der Fische unmutig mit seiner Schwanzflosse gegen einen Stein in dem Damm, und dieser rollte auf der anderen Seite hinunter. Ein Rinnsal bahnte sich einen Weg durch die so entstandene Ritze.
„Oh! So massiv ist der Damm also gar nicht?“, bemerkte der Bach verwundert. „Und wenn ich nun....“Er konzentrierte seine Energie auf die Stelle, wo der Stein herausgerutscht war und schaffte es tatsächlich, einige weitere Steine und ein paar kleine Zweige fortzuspülen. Das Rinnsal wurde breiter und tiefer, und mit dem nächsten Stock wurde plötzlich der ganze Damm weggerissen.
Die Kaulquappen zogen erschrocken die Köpfe ein. Sobald sie aber den ersten Schreck überwunden hatten, fielen sie mit weit aufgerissenen Mäulern über die frischen Algen her, die ihnen entgegen gespült wurden. Und die Blumen und Gräser reckten ihre Wurzeln, um sich mit dem frischen Wasser abzukühlen. Der Bach, der eben noch reglos hinter dem Damm verharrt hatte, sprudelte zunächst überrascht, dann jauchzend über die glatten Steine im Bachbett und trug die Fische mit sich, die übermütige Luftsprünge machten.
Auch die anderen Dämme, an denen er früher gescheitert war, brachen nun auf, ebenso wie die, die ihm noch begegnen sollten. An jedem neuen Damm wurde er etwas kürzer aufgehalten, und schließlich war er wieder so breit und hatte so viel Kraft, dass in seinem Bachbett niemand mehr Dämme bauen konnte.
Und manchmal, wenn die Fische im Bach gerade besonders übermütig plätschern und jauchzen, zwinkert er ihnen zu und sagt: „Pscht! Vielleicht schläft hier ja irgendwo eine kleine Elfe!“
Ihr Lieben,
wenn wir auf unser Leben zurückblicken,
dann hat unser Leben oft eine Ähnlichkeit mit diesem Bach.
Niederlagen, die unseren Weg gepflastert haben, - Leid, das wir erlitten haben, - Fehler, die wir gemacht haben, - Entmutigungen, die uns entgegen geschleudert wurden, sie alle haben uns resignieren lassen, haben uns den Schwung, die Hoffnung und die Zuversicht genommen und wir fühlen uns blockiert wie dieser Bach mit seinen Dämmen.
Der Fehler ist nicht, dass es überhaupt zu diesem Zustand gekommen ist.
Das kann jedem Menschen geschehen.
Zu einem wirklichen Fehler wird es erst dann, wenn wir uns mit diesem Zustand abfinden, wenn wir selbst die feste Überzeugung gewinnen, wir hätten keine Kraft mehr, wir seien gelähmt, das Leben habe uns nichts mehr zu bieten als Mühe, Sorge, Kummer und Last.
Aber das ist einfach nicht wahr:
Tief in uns schlummert eine große Kraft:
Sie hat nichts mit körperlicher Stärke zu tun,
sondern es handelt sich um eine geistige Kraft.
Wir müssen uns klar machen, dass die Hindernisse, die unser Leben behindern, nicht unverrückbar sind, sondern dass wir sie beseitigen können.
Wir müssen uns klar machen, diese Hindernisse uns daran hindern,
unser volle Kraft und unsere volle Lebensfreude zu entfalten.
Wir müssen uns klarmachen, dass es viele Menschen in unserer Umgebung gibt, die sich darüber freuen, von unserer Kraft, unserer Zuversicht, unserer Hoffnung, unserer Freude, unserer Liebe ein wenig abbekommen zu dürfen, um auch das eigene Leben dynamisch gestalten zu können.
Ich wünsche Euch eine Nacht der Ruhe und des Friedens und morgen einen Tag der Dynamik und Freude und ich grüße Euch ganz herzlich aus Bremen
Euer hoffnungsvoller Bach Werner
Quelle: Karin Heringshausen