In den kommenden Wochen wird etwas geschehen, dass es in Deutschland seit 1987 nicht mehr gab: Volkszählungsbeauftragte werden mit Fragebögen ausschwärmen, um im Rahmen einer „Zensus 2011“ genannten Volkszählung per Fragebogen und Interview Daten zu sammeln.
Mit dem der Volkszählung zugrunde liegenden Zensusgesetz wird die EG-Verordnung 763/2008 in deutsches Recht umgesetzt. In ihr verpflichteten sich die EU-Mitgliedsstaaten, in regelmäßigen Abständen Volkszählungen durchzuführen und dabei bestimmte Daten an das Statistische Amt der Europäischen Union (EuroStat) zu übermitteln.
Die letzte große Volkszählung (geplant für 1983, verzögert durch Verfassungsklagen letztlich bis 1987) führte zu enormen zivilgesellschaftlichem Protest und endete letztlich von dem Bundesverfassungsgericht, dass den Staat in seine Schranken wies und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des Art 2 GG ausformulierte.
Grundsätzlich sind Volkszählungen eine gute und in gewissen Abständen auch notwendige Angelegenheit. Sie dienen dazu Entscheidungen in Politik und Verwaltung mit Daten und Fakten zu untermauern. So sind z.B. gerade im kommunalen Bereich Entscheidungen über den Ausbau von Infrastrukturen, die Priorisierung knapper Mittel oder die Gestaltung von Bebauungsplänen davon abhängig, über relativ aktuelle Zahlen bzgl. Größe und demografischer Verteilung der Bevölkerung zu verfügen
Aus diesem Grund wird auch seit 1957 jährlich eine „kleine Volkszählung“, der sog. Mikrozensus durchgeführt, bei der etwa 1% der Bevölkerung nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und befragt wird.
Allerdings verfügte der Staat zu keiner Zeit über so viele und so genaue Informationen (sowie die Möglichkeiten zu deren Verarbeitung) wie heute. Die Qualität politischer Entscheidungsfindung wurde dadurch jedoch gerade nicht verbessert. Auch weiterhin sind politische Entscheidungsprozesse oftmals von Beratungsresistenz, dem Ignorieren gegebener Fakten, der Fehlinterpretation bzw. dem parteipolitisch / ideologisch motivierten Hinbiegen von Sachverhalten sowie ganz allgemein von Dummheit, Faulheit und Ignoranz den Betroffenen gegenüber geprägt. Ein Mehr an Informationen führt bei gleichbleibenden politischen Strukturen und Personalien also nicht zu Verbesserungen. Politische Problemherde wie das Zugangserschwernisgesetz, Stuttgart 21 oder das E10-Desaster belegen das in erschreckender Regelmäßigkeit.
Umgekehrt können Volkszählungen, die zu sehr umfangreichen Datenbeständen führen, auch Tür und Tor für Missbräuche aller Art führen. Denn nur solche Datenbestände, die überhaupt entstanden sind, können abhandenkommen oder gegen die Interessen der Betroffenen verwendet werden. Insbesondere Daten, das persönliche Leben der Gezählten, deren ethnische / sexuelle / politische / gesundheitliche / finanzielle / religiöse / weltanschauliche Orientierung betreffend, sind da als heikel zu betrachten. Nicht umsonst sieht das Bundesdatenschutzgesetz dafür im § 3a die Prinzipien der Datensparsamkeit und der Datenvermeidung vor. Und deklariert im § 3 Abs. 9 Informationen über „die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, Gesundheit oder Sexualleben“ von Menschen als besonders schützenswert.
Es darf durchaus bezweifelt werden, dass die so zusammengetragenen Datenbestände vor Hacker-Angriffen, Diebstahl, Missbrauch und Datenverarbeitungsfehlern hinreichend geschützt werden können. Insbesondere da ja z.B. gerade die deutsche Regierung mit Plänen wie Elena, dem Beschäftigtendatenschutzgesetz oder den Plänen zur Vorratsdatenspeicherung eine fast schon kriminell zu nennende Leichtsinnigkeit bei solchen Fragen an den Tag legt.
Als die Nationalsozialisten mit gezielten Deportationen jüdischer Mitbürger begannen, profitierten sie davon, dass sie aufgrund ihrer gründlichen Volkszählungen und einer gut funktionierenden Verwaltung über ein für damalige Verhältnisse sehr gut gepflegtes Personenstandsregister und zahlreiche andere (damals noch analoge) Vorratsdatenspeichertöpfe wie z.B. das Arbeitsbuch, das Gesundheitsstammbuch, eine Meldepflicht, die Volkskartei sowie Personenkennziffern verfügten.
Im Gegensatz zur Volkszählung 1987 hat der Zensus 2011 bisher kaum mediale Beachtung gefunden. Was auch daran liegt, dass er relativ aufwandsarm organisiert wurde. Nur ca. 10% der Bevölkerung werden tatsächlich einen „Erhebungsbeauftragten“ zu sehen bekommen. Allerdings ist für bestimmte Personengruppen, an denen der Staat ein besonderes Interesse hat, eine Vollerhebung geplant. Dazu zählen u.a. Immobilieneigentümer sowie Bewohner sog. „sensibler Sonderbereiche“ wie Notunterkünfte, Flüchtlingslager, psychiatrischer Kliniken sowie Gefängnisse. In diesen Sonderbereichen sollen die Daten jedoch nicht von deren Bewohnern sondern stellvertretend von der Anstalts- bzw. Lagerleitung erhoben werden.
Wer vorab einen Blick in die Fragebögen werfen will, kann dies hier tun.
Sehr viele Informationen werden statt durch Direkterhebung aus diversen, bei Behörden geführten Datenquellen, wie etwa dem Einwohnermelderegister, dem Anschriften- und Gebäuderegister oder den Daten der Arbeitsagenturen abgezogen. Das ist streng genommen illegal, da diese Daten zum Zeitpunkt ihrer Erfassung ja mit einem datenschutzrechtlichen Zweckbezug belegt sind. Daher hat sich der Gesetzgeber in Form des Zensusvorbereitungsgesetztes (ZensVorbG) eine Rechtsgrundlage als Erlaubnis geschaffen, die es ihm ermöglicht, diese Daten zweckzuentfremden.
Dies ist auch einer der Hauptkritikpunkte der Zensusgegner wie z.B. dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. Denn wenn sich der Staat einmal einen Persilschein für den Datenzugriff ausstellt, kann er es jederzeit wieder tun. Daneben sehen sie etliche Detailfragen als ungeklärt bzw. kritikwürdig an.
Zumal auch Gruppen am Zensus 2011 ein Interesse haben, an welche die statistischen Ämter überhaupt nicht gedacht hatten. So empfahlen z.B. einige NPD-Landesverbände engagierten Mitgliedern, sich als Freiwillige für das Volkszählen zu melden. Denn dabei könnte man im Rahmen der Interviews so einiges über die Mitmenschen erfahren, was sich auch für die Parteiarbeit vor Ort verwenden lässt. Auch für andere Gruppierungen wie z.B. Scientology, Strukturvertriebe oder Trickbetrüger ist der Zugang zum Bürger per Zensus eine überlegenswerte Sache – Social Engineering von Staats wegen sozusagen. Zumal die Kommunen, welche die Volksbefragung durchführen, den persönlichen Hintergrund der Freiwilligen nicht näher hinterfragen oder prüfen.
Während die Befragten zwar verpflichtet sind, am Zensus teilzunehmen, müssen sie den Interviewern keine Fragen beantworten und diese auch nicht in ihre Wohnung lassen. Man kann sich stattdessen auch die Fragebögen aushändigen lassen und den Interviewer weiterziehen lassen.
Allerdings können die Erhebungsbeauftragten schon von sich aus den Wert der erhobenen Daten deutlich schmälern. Den sie dürfen beim Nichtantreffen der zu Befragenden auch Familienangehörige, Minderjährige und Nachbarn befragen. Von den Volkszählern dürfen auch Informationen erfasst werden, die z.B. über die Wohnung von außerhalb aus in Erfahrung zu bringen sind. Da können schon mal Dichtung und Wahrheit durcheinanderkommen.
Trotz der grundsätzlichen Sinns den ich in Volkszählungen erkennen kann, verbleibt eine gute Portion Skepsis, da ich der Politik fast jeden Unsinn zutraue und sie bereits etliche Male grundsätzlich sinnvolle Dinge nach allen Regeln der Kunst gegen die Wand gefahren hat.
Das scheint auch dem Gesetzgeber bewusst gewesen zu sein, weswegen er auch einen Auskunftszwang sowie ein Bußgeld von bis zu 5.000 € (§ 23 BStatG) bei dessen Verweigerung vorgesehen hat. Er traut dem Volke anscheinend ebenso wenig wie umgekehrt.