Es ist mir eigentlich zu plump, nach dem Ergebnis eines Volksentscheides, das mir nicht gefällt, generell über den Sinn und Nutzen von direkter Demokratie nachzudenken. Die Entscheidung, ob und wie direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern stattfinden soll, ist nämlich keine, die anhand von Tagespolitik und schon gar nicht nach der Konjunktur der Ergebnisse bewertet werden sollte. Dennoch: Das Ergebnis des Hamburger Volksentscheids über die Primarschule bringt ein Problem (wieder) so offenkundig auf die Agenda, dass man es diskutieren muss – gerade in linken Kreisen, die sich sonst vorbehaltlos hinter die direkte Demokratie stellen.
Zahlreiche der verschiedenen Volksentscheide beispielsweise in Berlin oder jetzt auch in Hamburg offenbaren vor allem eines: Direkte Demokratie artikuliert die Interessen des wohlhabenden oberen Randes der Mittelschicht. Die Interessen derer, die in der Gesellschaft ohnehin benachteiligt sind, fallen hinten runter.
Hamburg ist dafür ein besonders prägnantes Beispiel: Während in den wohlhabenden Stadtteilen Blankenese oder Othmarschen gut die Hälfte der Wahlberechtigten zur Abstimmung gegangen sind, lag die Quote in den Quartieren mit sozialen Problemen nur bei 20 Prozent (Quelle). Dazu kommt, dass beispielsweise Migranten gar nicht an der Abstimmung teilnehmen durften. Gerade deren Kinder hätten aber besonders von der Schulreform profitiert. Zusammengefasst kann man sagen, dass die Wohlhabenden, die Zeit und Geld haben, ihre Interessen zu artikulieren und in einem Volksentscheid durchzukämpfen, das auf Kosten der Benachteiligten auch tun. Und zwar Gnadenlos. Zugespitzt: Der Schutz von berechtigten Minderheitenpositionen findet hier nicht statt, der Volksentscheid belohnt die mit den stärksten Ellbogen.
Dass diese Einschätzung kein Hamburger Unikum ist, zeigt der Blick auf eine ganze Batterie von Volksentscheiden, die in den vergangenen Jahren in Berlin stattgefunden haben, nachdem SPD und LINKE per Gesetz die Schwellen für Volksentscheide deutlich gesenkt haben.
Ein solches Beispiel ist der Volksentscheid um die Offenhaltung des Flughafen Tempelhofs, wo es den Initiatoren auch vor allem um die Wahrung des eigenen Besitzstandes und um ein wenig Traditionspflege ging. Die Interessen der gesamten Stadt waren völlig egal. Das Plebiszit scheiterte am Ende nur daran, dass nicht genug Stimmen zusammen kamen. Ein anderes Beispiel ist der Volksentscheid um das Entwicklungsprojekt Mediaspree. Der Bürgerentscheid dagegen setzte sich einerseits nachvollziehbar gegen Gentrifizierungstendenzen in Kreuzberg ein, beförderte aber vor allem die Interessen von kommerziellen Clubs am Spreeufer, die kurzerhand in der öffentlichen Debatte zu öffentlichen Projekten umgedeutet wurden (siehe dazu auch hier). Gewonnen hat die private und gewinnorientierte Nutzung des Ufers für wenige, verloren hat beispielsweise ein (mit 10 Metern zu schmaler) Uferwanderweg für alle.
Weil die bisher gemachten Erfahrungen mit Bürgerentscheiden die Tendenz haben, Partikularinteressen auch gegen den Willen der Mehrheit durchzusetzen, weil das Instrument Volksentscheid praktisch vor allem denen zu Gute kommt, die sich sonst auch Parlamentarier kaufen könnten, muss über Direkte Demokratie neu nachgedacht werden. Zur weiteren Umsetzung von direkter Demokratie sollten daher verschiedene Standards berücksichtigt werden, die man auch sonst an Akteure im politischen Raum stellt:
- Transparenz bei der Finanzierung: Auch Initiativen sollten Rechenschaft über ihre Kasse ablegen und Spender veröffentlichen – allein damit es nicht zu handfesten Verdachtsmomenten kommt wie bei der Tempelhof-Ini seinerzeit.
- Die Quoren müssen so gestaltet sein, dass sie im Erfolgsfall tatsächlich eine Mehrheit der Bevölkerung abbilden.
- Die Quoren müssen so organisiert werden, dass nicht die Minderheit einer Region über die Mehrheit des Rests triumphieren kann – siehe Hamburg
- Kritisch diskutiert werden muss, wie und welche Sicherungen zum Schutz von Minderheiteninteressen eingebaut werden können.
Ich persönlich bin mit dem Thema direkte Demokratie relativ fertig. Alle Entscheide haben gezeigt, dass das Instrument wenn überhaupt nicht von der gesamten Bevölkerung, sondern nur von Interessengruppen angenommen wird. Und vielleicht ist es auch schlicht und ergreifend so, dass eine komplexe Frage nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden kann.
Update: Hier gibt es noch eine spannende Analyse: Wahlbeteiligung spiegelt Armutsverteilung
Update: Hier ist noch ein interessanter Beitrag von Panorama über die Initiative “Wir wollen lernen”: