Eine andere Welt ist möglich. Das ist vielleicht unsere wichtigste Erfahrung der letzten Wochen und Monate. Und mit dieser Erfahrung sollte es eigentlich möglich sein, grundlegende Veränderungen hin zu einer enkeltauglichen Gesellschaft anzugehen. Uwe Schneidewind, Professor für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit an der Bergischen Universität Wuppertal, hat dazu eine Art Anleitung verfasst, ein Kursbuch für die «Kunst gesellschaftlichen Wandels». – Die Besprechung eines gewichtigen Buches.
Zugegeben, die Herausforderungen sind gigantisch. In fast allen Bereichen unserer Gesellschaft sind grundlegende Veränderungen nötig, ja überfällig, damit auch die nächsten Generationen noch eine Welt vorfinden, in der ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Und auch in der Gegenwart wird weltweit breiten Schichten der Bevölkerung ein Leben in Würde und Sicherheit vorenthalten. Wir müssen anders wirtschaften – aber nicht nur das. Es braucht eine Energiewende – aber nicht nur das. Es braucht einen anderen Umgang mit unseren Ressourcen – aber nicht nur das. Es braucht eine Zivilisationswende, eine grosse Transformation. Sonst können wir das Projekt Menschheit auf dieser Erde vergessen.
Die gute Nachricht ist: Eine solche Wende ist möglich – oder erscheint zumindest nicht ganz unmöglich, wenn man das Buch von Schneidewind gelesen hat. Der Autor benennt aus wissenschaftlicher Sicht die gesellschaftlichen Felder, in denen eine Transformation hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft ansteht und oft auch schon angedacht ist, und empfiehlt, sich dabei an den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu orientieren. Diese denken Umwelt und Entwicklung zusammen, indem sie fünf Dimensionen unserer Lebenswelt einbeziehen, die sogenannten «5 Ps»:
- People: Die Grundbedingungen für ein menschenwürdiges Leben, etwa der Zugang zu Wasser und Strom, zu Bildung und Gesundheit, sind sichergestellt. Armut und Hunger sind beendet.
- Prosperty: Ein über die Grundbedürfnisse hinausgehender Wohlstands für alle Menschen ist erreicht.
- Planet: Diese gesellschaftlichen Entwicklungsziele werden mit den ökologischen Notwendigkeiten unseres Planeten verknüpft, mit Klima- und Meeresschutz sowie dem Schutz der Landökosysteme. Ein gutes Leben kann durchaus ressourcenschonend sein.
- Peace: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen sind für eine nachhaltige Entwicklung unabdingbar.
- Partnership: Globale Partnerschaften werden gestärkt.
Die Utopie erhält ein Gesicht
Im Erdzeitalter des Menschen, dem Anthropozän, ist das Schicksal der Erde und damit das Schicksal der Menschheit in unsere Hände gelegt. Wir sind nicht von irgendwelchen ominösen Mächten Getriebene, sondern selber die Gestalter unseres Schicksals – und stehen somit auch in voller Verantwortung. Nichts weniger als ein Zivilisationssprung ist notwendig, damit ein menschenwürdiges und gutes Leben für künftig zehn Milliarden Menschen innerhalb der ökologischen Leitplanken unseres Planeten möglich wird und auch die kommenden Generationen auf ein solches Leben hoffen können.
Die Herausforderungen sind so gross, dass man geneigt ist, den Kopf in den Sand zu stecken und zu warten, bis alles vorüber ist. Und tatsächlich verhalten sich ja breite Teile unserer Gesellschaft – inklusive Politik und Wirtschaft – genau so. Hier hält Uwe Schneidewind mit konkreten und fundierten Vorschlägen entgegen. Und das ist das Hauptverdienst dieses Buches: Die Schritte hin zu einer nachhaltigen Entwicklung sind so fundiert und einsichtig dargestellt, dass neuer Mut aufkeimt und man Teil dieser Transformation werden möchte. Die Aufgabe ist zwar riesig, aber die einzelnen Schritt sind machbar. Die Utopie erhält ein konkretes Gesicht.
Ausführlich werden die einzelnen Felder dieser Transformation, die einzelnen «Wenden», ausgeleuchtet: die industrielle Wende, die Mobilitätswende, die Ernährungswende usw. Schneidewind charakterisiert die typischen Herausforderungen und Perspektiven der einzelnen gesellschaftlichen Baustellen und legt den Stand der Dinge dar. Fazit: Die Werkzeuge für den Umbau sind vorhanden. Bloss werden sie viel zu zögerlich eingesetzt.
Wirtschaften im Dienst der Gesellschaft
Auch das Wirtschaftssystem muss sich wandeln. Daran lässt der Autor keine Zweifel. Sehr differenziert und ohne Scheuklappen – immerhin hat Uwe Schneidewind an der Universität St. Gallen als Betriebswirtschafter promoviert und habilitiert – zeigt er auf, wie der Kapitalismus zum Bremser einer nachhaltigen Entwicklung geworden ist und wo die Hebel anzusetzen sind, um einen grundlegenden Wandel der Wirtschaftsordnung zu erreichen hin zu einer zukunftsfähigen Wirtschaft, die sich in den Dienst der Gesellschaft stellt. Es geht nicht darum, den Kapitalismus abzuschaffen. Vielmehr soll er laut Schneidewind gezähmt, ja zivilisiert werden, nicht zuletzt indem die ökonomische Theorie und Analyse erweitert wird.
Eine Zivilisationswende im 21. Jahrhundert ist nur denkbar, wenn alle Dimensionen unserer Lebenswelt einbezogen werden. Technologische Lösungen allein reichen für eine nachhaltige Entwicklung nicht aus. Es braucht auch und zuerst einen Kulturwandel – der ja in Ansätzen schon im Gang ist –, so dass in der Folge institutionell, also durch Politik und Gesetzgebung, Leitplanken in die gewünschte Richtung gesetzt werden, was wiederum der Wirtschaft Planungs- und Investitionssicherheit gibt.
Im Zentrum dieses Buches steht die «Zukunftskunst», die Kunst, welche die unterschiedlichen Dimensionen der grossen Transformation zusammendenkt und in einem kreativen Prozess die Handlungsmöglichkeiten erarbeitet. Weit davon entfernt, eindimensionale technokratische Lösungen anzumahnen, stellt der Autor Werkzeuge und Handlungsoptionen bereit und zeigt ermutigende Beispiele auf, wo Zukunftskunst bereits gelebt wird.
Die Akteure des Wandels
Im letzten Teil des Buches benennt Schneidewind die verschiedenen Akteure des Wandels. Dabei kommt der Zivilgesellschaft als treibende Kraft und als Mahnerin eine zentrale Rolle zu. Sie ist mit ihren humanistischen Idealen ein gesellschaftlicher Kompass. Und sie ist die primäre Akteurin des kulturellen Wandels und setzt so – zumindest in demokratisch verfassten Staaten – die Grundlage für den institutionellen, den wirtschaftlichen und technologischen Wandel.
Weitere Akteure sind die Unternehmen. In Bezug auf ihre Rolle fordert Schneidewind nichts weniger als eine neue «Theorie der Firma» und einen «grundlegenden unternehmerischen Perspektivwechsel». Ausgangspunkt des unternehmerischen Handelns müssen die gesellschaftlichen Herausforderungen sein und nicht das reine Profitstreben, dessen Folgen – etwa die übertriebene Kommerzialisierung und der Konsumismus – einer nachhaltigen Entwicklung unmittelbar entgegenstehen. Der gesellschaftliche Nutzen muss im Zentrum eines zukunftsfähigen Geschäftsgebarens stehen.
Alles in allem gewinnt die Utopie einer «anderen Welt» durch dieses Buch Konturen. Sie rückt einem näher, wird fassbar und somit auch erstrebbar. Das Buch liest sich zudem trotz seines vielschichtigen Themas recht flüssig und ist von einem Optimismus getragen, der Mut macht. Ich würde es allen empfehlen, die noch Hoffnung haben – und allen anderen erst recht.
Die Große Transformation
Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels
528 Seiten
FISCHER Taschenbuch
Frankfurt am Main, Dritte Auflage 2019
ISBN: 978-3-596-70259-6