ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 505
Marcel Reich-Ranicki fand die für ihr Werk wohl treffendsten Worte. Sie habe Vorbilder gehabt – von Hölderlin bis Trakl – und sie fand »für die Zerstörung, die Auflösung und die Erschütterung eine lapidare, eine vorbildlich sparsame und doch niemals karge Sprache. Ihre Ruhe tarnte nicht die Unruhe, sondern ließ sie erst recht fühlen und erkennen. Ihre Verhaltenheit unterstrich ihren Schmerz, ihre Verzweiflung. Immer ist die Poesie der Marie Luise Kaschnitz in höchstem Maße persönlich und doch zugleich welthaltig. Sie zeichnet sich durch kammermusikalische Intimität aus. Gleichwohl geht von ihr eine geradezu alarmierende Wirkung aus. Sie erteilt uns eine sprachgewaltige Lektion Stille«.
Woher die Worte eines Gedichtes kommen, hat die Kaschnitz für sich einmal so benannt: »… Was mir zufällt, nehm ich, // Es zu kämmen gegen den Strich, / Es zu paaren widernatürlich, / Es nackt zu scheren, / In Lauge zu waschen / Mein Wort // Meine Taube, mein Fremdling / Von den Lippen zerrissen, / Vom Atem gestoßen, / In den Flugsand geschrieben // Mit seinesgleichen / Mit seinesungleichen // Zeile für Zeile, / Meine eigene Wüste / Zeile für Zeile, / Mein Paradies.«
Heute muss man ihre Texte suchen. Nicht immer sind sie in großen Anthologien vertreten. Im Kleinen Conrady von 2008 schon. Unter den drei ausgewählten Gedichten findet sich der späte, 1971 entstandene Text »Jeder«, in dem sie den Begriff Heimat thematisiert und den Faschismus unmissverständlich vorführt: »… Hakenkreuzfahnen / Dröhnende Stiefelschritte / Geflüstertes Grauen / Züge entlang dem Lahnfluß voll / Nicht singender Soldaten / Judenzüge / Detonationen Christbäume sogenannte / Asche zu Asche…«
In »Orte. Aufzeichnungen« von 1973 konstatiert sie: »Frankfurt im Krieg und worin soll sie denn bestanden haben, unsere sogenannte innere Emigration? Darin, dass wir ausländische Sender abhörten, zusammensaßen und auf die Regierung schalten, ab und zu einem Juden auf der Straße die Hand gaben, auch dann, wenn es jemand sah? … Nicht heimlich im Keller Flugblätter gedruckt, nicht nachts verteilt, nicht widerständlerischen Bünden angehört… Lieber überleben, lieber noch da sein, weiter arbeiten, wenn erst der Spuk vorüber war. Wir … sind keine Helden, wir taten etwas anderes.«
Ungeschönte Worte einer im Deutschland der Nazibarbarei Gebliebenen, die von tiefer Scham künden. Was für eine außergewöhnliche Art und Weise des gereiften Sichfindens. Was für eine kompromisslose Rückschau: über die frühen Romane, Hörspiele, Erzählungen und Essays hin zu Gedichten, die »ein Wort weiter« gehen und zu Miniaturprosastücken, die so gesehen vorstoßen zur »härteste(n) innere(n) Wahrheit«, ohne die der Mensch nicht als Mensch in der Welt ankommen kann. ARTus
Nachtrag zum hundertzehnten Geburtstag der Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz. Zeichnung: ARTus