Zahra's Paradise (Amir & Khalil) ... wo der arabische Frühling seinen Anfang nahm

Zahra's Paradise (Amir & Khalil) ... wo der arabische Frühling seinen Anfang nahm
Im Juli 2009, wenige Tage nach der offensichtlich manipulierten Wahlentscheidung, begann mit Zahra's Paradise die Echtzeitdokumentation der ersten große Massenprotest der muslimischen Welt. Für Historiker wird diese Quelle irgendwann von nicht zu unterschätzender Relevanz sein. Bildet doch dieser Comic ein erhellendes Zeitdokument zu den Protestformen in Teheran und zahlreichen anderen iranischen Städten.
Die beiden Autoren, die incognito aus dem westlichen Ausland publizieren, schufen mit ihrer Bildergeschichte eine kraftvolle Gegenerzählung zu den staatlichen Verlautbarungen der iranischen Theokratie. Inzwischen ist der Webcomic, der schnell durch zahlreiche ehrenamtliche Übersetzerinnen in fast 20 Sprachen übertragen wurde, auch in Buchform in Deutschland bei Knesebeck erschienen.
Mich freut es natürlich sehr, dass ein Titel, den ich noch in seiner englischen Netzfassung [Besprechung findet ihr hier] ausführlich gewürdigt hatte, nun auch seine Weihen von der Redaktion der Kulturzeit erhalten hat. Aber mich treibt hier keine stinkende Eigenlobhuberei eines Early Adaptors an - sondern der Wunsch, dass dieses Stück erschreckende Zeitgeschichte möglichst weite Verbreitung findet. Insbesondere ergänzend zu einem populären anderen Titel.
Viele Menschen kaufen ja gerne Satrapis Persepolis, wenn sie sich mit der politischen Lage im Iran vertraut machen wollen - ich muss dann immer etwas lächeln, verzeiht mir. Denn der fraglos grandiose Comic kann niemals ein Abbild der Lage des heutigen Irans geben, ist er doch im Jahr 1979 (und den Folgejahren) situiert, über das heutige Leben, die aktuellen Lebenswirklichkeiten erfährt man nichts.
Zwei weitere Aspekte sprechen für Zahra's Paradise, möchte man Einblick in die aktuellen iranischen Geschehnisse erhalten. Zum einen ist dieser Comic radikal der dokumentarischen Form verpflichtet, trotz aller dramaturgischen Verfremdung, versuchen die beiden Macher eine möglichst vielschichtiges, multidimensionales Annäherung an die gesellschaftlichen Wirklichkeiten zu präsentieren. 
Und der zweite Punkt ist möglicherweise noch interessanter, der Comic ist nicht nur eine versierte, brillant beobachtete Dokumentation, welche die gesamte Bandbreite der grafischen Klaviatur ausnutzt und bei der elegante Illustration, bissige politische Karikatur und atmosphärische Schilderungen schlüssig ineinander übergehen, sondern auch ein kollektives, globales Schwarmprodukt. 
Nicht nur die Zuträger, sondern auch die Übersetzer machen den Comic zu etwas besonderem. Als zutragende Impulsgeber dienen Menschenrechtsaktivisten, Akteure der digitalen Resistance, Journalisten, Freunde und Familienmitglieder. Sie alle erschaffen eine gemeinsame vielstimmige Nacherzählung der Wirklichkeit und erlauben eine tiefen (und differenzierten) Einblick in das iranische Heute. 
Amir & Khalil agieren nicht als zentrale Instanz, welche die Welt aus einer radikal subjektiven Perspektive ordnend erklärt, sondern als ein grafisch-erzählerisches Komponistenduo, welches die detailreichen, heterogenen Versatzstücke zu einem eindrucksvollen Ganzen organisiert.
Knesebeck hat erfreulicherweise dem Comic einen umfangreichen kommentierenden Appendix beigefügt, der die Motivation, Ängste, Hoffnungen und Erwartungen der Macher und Zuträger darstellt und eine schockierende Liste der Opfer der theokratischen Diktatur des Irans enthält - ein sechsseitiges, eng bedrucktes Epitaph, welches sehr nachdenklich macht. 
Dieses Extra verdeutlicht nochmals, dass sich in diesem Comic eine neue journalismusnahe Dokumentationsform entwickelt, die an die Tradition der Individualschilderungen Saccos oder Delisles anschliesst. Zahra's Paradise aber ist deutlich mehr als ein politisch argumentierender Dokumentarcomic, als eine soziologische Konfliktdeutung aus Text & Strich. 
Der Titel geht weit über diese Deutungen  hinaus, nicht die Einzelstimme eines fremden Beobachters ordnet und organisiert, sondern die in Comicform überführte Schilderungen sind autochthone, iranische Äusserungen und somit autoethnologische Aussagen aus dem Inneren eines theokratisch durchherrschten Landes. 
Diese Stellungsnahme ist deutlich differenzierter und aufgrund der Pluralität präziser und realistischer, durch die bewusste Integration der Vielstimmigkeit wird die, in Persepolis noch dominante, Binärstruktur zwischen Herrschenden und Aufbegehrenden aufgebrochen und durch die Bandbreite polyphoner Lebensentwürfe ersetzt. Spätestens jetzt wird deutlich, wie stark unser vereinfachendes Iranbild durch die mediale Vermittlung  beeinflußt ist. 
Für mich noch immer einer der relevantesten Titel der letzten Jahre und möglicherweise die beschreibende Vorwegnahme der drohenden Niederschlagung des sogenannten arabische Frühlings, denn die iranischen Behörden zertraten den digitalen Widerstand lange bevor die SCAF sich entschied die demonstrierende Opposition im Tränengasnebel zusammenzuschiessen.
Klare Flaneurempfehlung, auch wenn ich an einem Punkt Grund zur Klage habe, denn aufgrund des Coverdesign erinnert der Comic ein wenig an ein etwas sprödes Schulbuch, was ihm ein paar Nachteile  gegenüber der bunten Konkurrenz einbringt, aber wer will ein Buch schon nach dem Cover bewerten :D. Kauft es [hier]!

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