Yom Ha’Shoah und March of the Living/Marsch der Lebenden/מצעד החיים – eine Gebrauchsanweisung

Von Qohelet17

Eigentlich wollte ich ja heute über Pessah schreiben, da dies chronologisch gesehen vor dem Yom Ha‘Shoah liegt. Aber ich bin ohnehin schon so verzögert, dass es jetzt auch schon egal ist…

Zudem findet man im Internet fast nirgends brauchbare Informationen zum Marsch der Lebenden/March of the Living, daher habe ich mich entschlossen etwas Nützliches dazu zu schreiben. Weder auf der Veranstaltungsseite, noch auf der Seite der Gedenkstätte Auschwitz oder auf Wikipedia gibt es sinnvolle Daten zu diesem wichtigen Termin…

Einführung und Gebrauchsanweisung

Bevor ich etwas zur Teilnahme selbst schreibe, möchte ich einmal niederschreiben, was und wann der Marsch der Lebenden überhaupt ist.

Zwischen 4000 und 8000 Personen nahmen dieses Jahr teil...

Der March of the Living ist, da er jedes Jahr am Yom Ha‘Shoah (Tag der Shoah, bzw. Tag des Holocausts) stattfindet mit dem gregorianischen Kalender nicht auf einen Tag festsetzbar. Im jüdischen Kalender ist es der 27. Nisan. Problematisch dabei ist, dass Trauertage nicht direkt auf den Tag nach dem Schabbat (Samstag) fallen dürfen und er so immer vom potentiellen Sonntag auf Montag „wandert“.

  •  2010 gab es am 27. Nisan einen Sonntag, also war es am 28. Nisan (12. April)
  •  2011 war der 27. Nisan schon wieder ein Sonntag, deswegen fand er nicht am 1., sondern am 2. Mai statt.
  •  2012 wird es der 19. April sein, da der 27. Nisan auf einen Donnerstag fällt.

Nisan ist übrigens ein Monat im jüdischen Kalender, der sich meist zwischen März und April aufhält, hin und wieder aber auch in den Mai wandert.

Eine der jung gebliebenen Gruppen

Beim Marsch der Lebenden geht man entweder alleine oder mit der Gruppe seiner Wahl vom Stammlager Auschwitz I zum Nebenlager Auschwitz II Birkenau. Dies hat den Sinn, dass man das Lager, bzw. die Lager selbst sieht (womit auch Holocaust-Leugnern der Nährboden entzogen werden soll) und auch selbst symbolisiert, dass das Leben (Juden) über den Tod (NS-Endlösung) gesiegt hat. Die Meisten der Teilnehmer sind auch Juden, daher ist dieser Marsch der Lebenden auch als das Gegenteil der Todesmärsche der Nazis zu sehen – obwohl – oder genau weil man von einem Konzentrationslager in ein anderes marschiert.


„Am Israel Chai“ – es lebe das Volk Israel – gesungen von den Mitarbeitern der Israelischen Elektrizitätswerke

Während des Marsches werden auch verschiedene andere gruppenspezifische Projekte durchgeführt. Die österreichische Delegation hatte dieses Jahr beispielsweise den Zeitzeugen und Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg Marko Feingold eingeladen, der vor interessierten Schülern und anderen Begleitern gesprochen hat.

Marko Feingold ist überhaupt ein besonderer Mensch. Mit seinen 98 Jahren ist er teilweise fitter als Menschen meiner Generation. Während den Ansprachen gegen Ende des Programms an diesem Tag stand er unermüdlich auf einer Anhöhe und hörte den Rednern zu. Die meisten anderen Anwesenden saßen im Gras, einige lagen dort und wieder andere hatten die Augen geschlossen und verwendeten ihre Jacken als Decken. Marko Feingold stand.

Ich wollte mir diese Blöße nicht geben, jetzt auch sprichwörtlich in die Knie zu gehen und vertrat mir hin und wieder die Beine, während ich Reden aufzeichnete und Fotos machte. Meine Füße schmerzten. Marko Feingold stand.

Spätestens als er seine Geschichte erzählte (Humorvoll wie eh und je, ich habe ihm schon mehrfach zugehört) bin auch ich gesessen. Er… stand.

Bevor ich mich wieder dem Marsch widme, möchte ich noch eine kurze Anekdote erzählen, die mich mit Marko Feingold verbindet:

Bevor ich ihn zum ersten Mal getroffen habe wollte ich noch sein Buch „Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh“ lesen und habe ihn auch diesbezüglich kontaktiert. Er meinte zu mir, das Buch gäbe es nur um 97.- Euro – er selbst habe leider kein Exemplar mehr herumliegen. Etwas verwundert über diesen Preis lachte ich mir eins, was er schon wisse und dass ein Abkömmling der Generation Internet natürlich einen besseren Preis finden wird. So durchstöberte ich verschiedene Online-Plattformen nach diesem Buch. eBay, ZVAB, diverse Google-Ergebnisse. Nichts.

Schließlich dann Amazon. Da gab es das Buch. Preis: 97.- Euro. Er hatte recht. Möglicherweise ist er auch während dieses Telefonats gestanden…

Aber zurück zum Marsch der Lebenden…

Mit einer sehr sympathischen Gruppe aus Argentinien

Selbstorganisation

Für alle Individualreisenden, die am Marsch teilnehmen wollen. Das wird schwierig. Generell funktioniert die Teilnahme so:

Ein Teil der österreichischen Delegation - sie hatten nichts zum Handeln dabei

Man meldet sich bei einer Gruppe oder Organisation, die am Marsch teilnimmt. In Österreich macht das beispielsweise MoRaH, in Polen unter anderem das Auschwitz Jewish Center, in Israel jede Firma und jede andere Organisation. Von Deutschland weiß ich leider nichts, dieses Jahr gab es, soweit ich weiß auch keine deutschen Gruppen – falls ich mich irre – bitte um Korrektur.

Diese Gruppen melden einen dann bei der Gedenkstätte Auschwitz an (die brauchen die Passnummer) und damit war es das fürs Erste.

Seine „Eintrittskarte“ holt man sich in Form eines bunten Bändchens am Tag des Marsches, bei einer bestimmten Person vom Bildungsministerium, die für gewöhnlich nicht zu erreichen ist.

Deshalb sollte man wissen, wo man sie findet:

Der Haupteingang des Lagers ist geschlossen, der zweite Haupteingang vorne ist zwar geöffnet, allerdings verhindert das Sicherheitspersonal einen Eintritt, womit dieser Eingang de facto auch wegfällt.

Am Hintereingang (da ist auch die Busstation) ist hingegen geöffnet, jedoch kommt man mit einem Verweis auf den Namen der Kontaktperson nicht weit, die Sicherheitsleute kennen sie nicht und wollen sie auch nicht kennen, damit sie nicht unnötig gefragt werden. Namenliste besitzen sie auch keine.

Bei der Bushaltestelle steht relativ übersehbar die Kontaktperson, die über die benötigten Informationen verfügt. Man gibt seinen Namen an, zeigt ggf. seinen Pass her und erhält ein Bändchen.

Wesentlich einfacher zu erreichen: Chabad Lubawitsch - hin und wieder schneller da, als einem lieb ist

Aufteilung (2011):
Rote Bändchen sind lediglich für den Eintritt
Mit grünen und blauen Bändchen kommt man in Birkenau auch in die VIP-Section, was genau der Unterschied zw. diesen beiden ist, konnte ich jedoch nicht herausfinden.

Mit diesem Bändchen ist es dann auch möglich beim Hintereingang zu passieren und damit hat man die Startschwierigkeiten soweit hinter sich gebracht.

Mitzubringen (wichtig):

Wer was zum Handeln hat, kann auch was mitnehmen - California und Brasilia

Wir Österreicher fahren gerne nach Italien. Wiener gehen gerne auf den Naschmarkt – hauptsächlich aus dem Grund um das zu machen, was Österreicher eigentlich nicht können: Handeln.

Das ist auch eine der wichtigsten Nebentätigkeiten während des Marsches. Man handelt jedoch nicht mit Waren oder Geld, sondern mit Anstecknadeln. Je mehr man hat, desto mehr kann man auch tauschen. Speziell die Amerikaner und die Brasilianer sind Meister des dieses Vergnügens. Glücklicherweise waren zwei Amerikanerinnen so nett und haben mir je einen ihrer Pins überlassen. Einen Amerika-Pin der nördlichen Delegation und einen amerikanischen Stern (ironischerweise Made in China). Den nördlichen Amerika-Pin habe ich gegen eine Brasilien-Flagge getauscht und den Stern gegen Kalifornien. Man tauscht immer einen Pin gegen einen anderen. Empfehlen könnte ich als Tauschobjekte (für Österreicher):

  •  Österreich-Flaggen
  •  Österreichisch-Israelische Flaggen
  •  Wappen des Bundes oder der jeweiligen Länder
  •  Israel-Pins
  •  Pins diverser Österreichischer Projekte zum March of the Living oder aufarbeitender Natur

Amerikaner: Die wahrscheinlich freundlichsten Imperialisten der Welt

Die Amerikaner und Israelis sind prinzipiell sehr offen was direktes Ansprechen betrifft. Wer sich traut hat definitiv mehr vom Marsch der Lebenden und kann neben verschiedenen Anstecknadeln auch noch Erfahrungen austauschen.

Ebenfalls eine Überlegung wert ist die Mitnahme einer Flagge. Ich war zwar kein offizielles Mitglied der Österreicher-Delegation, bin aber recht häufig mit ihr marschiert (was auch nicht so verwunderlich war – seltsamerweise war Österreich eine der größten vertretenen Gruppen mit über 300 Leuten).

Keine Flagge, aber dafür Taferlan

Denkwürdig ist, dass keiner von diesen 300 eine Flagge oder einen Pin zum tauschen dabei hatte. Ich hatte (m)eine Israel-Flagge dabei und bekam hin und wieder sehr positive Rückmeldungen darauf.

Shalom - wir trafen uns bereits in Yad Vashem (die Welt ist ein Dorf)

Wer eine Österreich-Flagge mitnehmen will, wird vermutlich auch viele freundliche Blicke ernten. Das meine ich durchaus erst – obwohl Österreich (nicht das heutige, aber Israelis sind meistens intelligent und kennen den Unterschied zwischen einem Österreicher, der 1938-45 in der ersten Reihe gestanden hat und einem Teilnehmer des Lebensmarsches von heute) eine Täter-Nation war. Ich habe einige slowenische, slowakische, ungarische und tschechische Flaggen gesehen – auch Täter-Nationen.

Eine besonders engagierte (christliche) Gruppe aus Tschechien: Cesta Panujiciho Olomoue

Wer ganz sicher gehen will, kann sich auf die Flagge noch ein „O5″ schreiben, sollte aber dann über die Widerstandsgruppe Bescheid wissen. Falls jemand Flaggen von Partisanengruppen auftreiben und/oder imitieren kann ist auch ein Held des Tages.

Mit dem Verleihen von Flaggen macht man jedem eine Freude

Sollte man sich dann über die eigene Vergangenheit nicht ganz so sicher sein, ist eine Israel-Flagge nie verkehrt.

Auf dieser Flagge steht "Am Israel Chai" - "Es lebe das Volk Israel"

Dinge, die auch praktisch wären:

  • Kippa

    Zwei Reporter vom Jewish Pride Radio (live)

    • Ein schönes Zeichen der Solidarität – auch oder vor allem für Nichtjuden
  • Schofar
    • wird während des Tages hin und wieder geblasen
  • Eine kleine Jause
    • der Tag ist recht lange
  • Ein Grund, warum man hier ist
    • ich wurde 3x interviewt, 1x live

Dinge, die man nicht mitnehmen muss:

  • Wasser.
    • Davon wird reichlich ausgegeben

Der Marsch selbst

Der Auftakt - am Anfang ist noch nicht so viel los

Wann der Marsch tatsächlich stattfindet weiß niemand so genau. Es ist eine Mischung aus Spontanität, Planung und kollektivem Verhalten der Gruppe. Geplant war dieses Jahr, dass man sich gegen 13:00 in Bewegung setzt. Tatsächlich war es 13:30, aber das ist nicht wirklich schlimm. Der Beginn ist wie zuvor erwähnt im Stammlager Auschwitz I – wer sich nicht zurechtfindet sollte der großen Menschenmenge folgen.

Vor der Schweigeminute...

Bevor man tatsächlich abmarschiert, gibt es eine Schweigeminute. Dieses Jahr hatte man dann jedoch vergessen, sie zu beenden, sodass wir alle etwa 10 Minuten gestanden sind. In den ersten beiden Minuten hätte man trotz etwa 4.000-8.000 Teilnehmern (es ist unmöglich das Gelände zu überblicken) eine Nadel fallen hören können.

Hinaus unter dem Schild "Arbeit macht frei"

Der Weg verläuft von der Gaskammer im hinteren Teil weg, über die Küche und das Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ geht es hinaus über die Straße und Schienen nach Brzezinka zum Lager Auschwitz-Birkenau. Der Weg ist zwar relativ weit, aber es kommt einem während des Marsches nicht so vor.

Vor dem ehemaligen Todeslager angekommen kann man auch Kerzen oder Nachrichten auf bestimmten Täfelchen bei den Schienen anbringen.

An den Eisenbahnschienen zum Lager Birkenau werden häufig Kerzen und Schildchen aufgestellt

Immer und überall präsent im Juden wieder gläubig zu machen: Chabad Lubawitsch

Danach sammelt man sich bei bestimmten Treffpunkten im Lager selbst. Jede Nation und Gruppe hat ihren eigenen Treffpunkt. Die Briten warteten bei einer bestimmten Baracke, die Österreicher vor einem Hochsitz, wo man sich dann stärken und sich auch etwas ausrasten kann.

Gegen 17:00 finden dann verschiedene Ansprachen am hinteren Ende des Lagers Birkenau statt – wie zuvor erwähnt kommt man mit der richtigen Schleifenfarbe in den VIP-Bereich, wo es richtige Sitzmöglichkeiten gibt.

Die Ansprachen bein March of the Living - hier: Benjamin Netanjahu

Die Ansprachen waren unter Anderem vom israelischen Präsidenten Benjamin Netanjahu (nicht selbst anwesend), vom ehemaligen Oberrabbiner von Israel – Rabbi Israel Meir Lau, der neben einem verständlichem Englisch auch noch eine sehr interessante Rede mitgebracht hat:

In der Rede geht es darum, was im letzten Absatz von Hitlers Testament zu finden ist, dass Hitler sich in den letzten Tagen und Stunden seines Lebens nicht um Deutschland, sein Volk, dass er ins Verderben geführt hat, seine Frau oder seine Familie schert sondern lapidar anmerkt:

„Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.“

Gegeben zu Berlin, den 29. April 1945, 4.00 Uhr.
Adolf Hitler*

Rabbi Israel Meir Lau mit dem Testament von Adolf Hitler

Rabbi Lau war, als er aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit wurde gerade einmal acht Jahre alt (wobei „Befreit“ fast etwas abwegig ist, die SS hat eine Fahnenflucht der Sonderklasse hingelegt, als sie bemerkt hatten, dass die US-Streitkräfte das Lager bald erreichen). Einer der US-Kommandanten nahm ihn in die nächstgelegene Stadt Weimar mit. In Weimar – einem der Zentren der Deutschen Geschichte von Dichtern, Denkern und Philosophen – hob er den kleinen Israel hoch, zeigte ihn den alten Menschen von Weimar und fragte:“Schaut euch dieses Kind an. Er war euer Feind! Ihr habt diesem Kind den Krieg erklärt! Hat er euch bedroht?“

Die Weimarer begannen zu weinen… „Wir haben von nichts gewusst“…

Rabbi Lau ist vor einigen Jahren den Fußweg vom Nationaltheater in Weimar bis zum Haupteingang des Lagers Buchenwald zu Fuß marschiert und hat die Zeit gestoppt.

8 Minuten.

„Wir haben von nichts gewusst“…

Was wäre gewesen, wenn schon 1938 ein jüdischer Staat bestanden hätte...?

Er spricht an, was passiert wäre, wenn der israelische Staat nicht 1948, sondern 1938 gegründet wurde. Wenn es schon damals eine Schutzmacht der Juden gegeben hätte – was wäre passiert? Hätte es den Mord an den Juden gegeben? In diesem Ausmaß?

Wenig später wurden noch 6 „Kerzen“ für die 6 Millionen jüdischen Opfer des Massenmordes entzündet und das Gebet El male rachamim (Gott voller Erbarmen) gesprochen. Danach folgte das Kaddisch (jüdisches Totengebet) und anschließend die Ha‘Tikva (israelische Hymne – Übersetzung: “Die Hoffnung“).

Mir ist es leider nicht gelungen, alles aufzunehmen, da ich die Ankündigung nicht mitbekommen habe. Wer also am Marsch der Lebenden teilnimmt, sollte ab dem Gebete El male rachamim seine Kamera gezückt halten, um diesen „Höhepunkt“ aufnehmen zu können. Er ist es wirklich wert.

Die österreichische Delegation

l. sitz. Oberr. P. C. Eisenberg u. r. Konsul Eidherr

Es ist dann etwa 17:30 und verschiedene Gruppenaktivitäten beginnen. Bei den Österreichern beispielsweise das Zeitzeugengespräch mit Marko Feingold, bei dem auch der Oberrabbiner von Wien – Rabbi Paul Chaim Eisenberg anwesend war.

Mit ihm konnte ich glücklicherweise noch kurz sprechen, bevor ich noch einmal zurück ins Auschwitz Jewish Center musste – einige Teilnehmer des Marsches der Lebenden wollten noch die Geschichte der Stadt Oswiecim wissen.

Diese – habe ich erzählt.

*Quelle: http://www.nationalsozialismus.de/dokumente/texte/adolf-hitler-politisches-testament-vom-29-04-1945.html


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