Es ist sicher niemanden entgangen, dass ich regelmäßig Yoga praktiziere. Eigentlich immer allein zu Haus oder als willkommene Abwechslung auf Reisen. Erstaunen dürfte es auch nicht, dass wann immer Bryan Kest in der Stadt ist, ich seine Klassen besuche. So auch wieder in diesem Jahr, obwohl ich nur durch Zufall wenige Tage zuvor davon erfuhr. Alle Termine so gedreht, dass es möglich wird! Warum der ganze Aufwand für etwas, was eigentlich Entspannung bringen sollte, stattdessen aber für ordentlich Stress sorgt? Allein schon in der Vorbereitung und beim Akkordarbeiten den Tag über. Denn wäre es nicht schließlich auch Bryan Kest, der vielleicht im Angesicht der Hektik einwerfen würde: ‘You’re bringing your shit to Yoga!’
Was das nun mit Yoga und Bryan Kest zu tun hat?
Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Aufmerksam dem gegenüber sein, was man gerade macht. Achtsam sich selbst gegenüber zu sein.
Es ist jedes Jahr gleich. Natürlich variieren seine Worte, seine Geschichten und die Übungen. Aber die Aussage ist die, die sie schon immer war. Genauso wie die Stunden immer genauso schweißtreibend sind.
Seine Power Yoga Stunde am ersten Abend sollte man im Badeanzug besuchen. Alles andere macht gar keinen Sinn! Meine zwei Wasserflaschen waren schneller leer, als wieder einmal erwartet. Power Yoga soll Energie, Vitalität und ja auch innere Ruhe und Balance schenken. Unsere Grenzen sollen wir wahren, nur so können wir ganz bei uns sein und jede Klasse, jede Pose aktiv miterleben und gestalten. Letztlich so uns und unsere Yoga Praxis auch weiterentwickeln.
Sein Geheimnis dieser schweißtreibenden Angelegenheit habe ich nach vier Jahren so ganz nebenbei ergründet. Ich wollte Licht an diesen späten Abenden genießen und legte mich direkt an die riesigen Fenster des alten Backsteinhauses vom Spirit Yoga West. Während wir uns nach seinem Vortrag langsam bereits für die einzelnen Posen machen, schleicht Bryan zwischen den Reihen entlang. Schließt alle Fenster und dreht die Heizungen auf. Ja! Heizungen. Schon bei der ersten Übung merke ich, wie mir die Hitze von den Zehenspitzen zum Kopf hoch steigt. Sollte ich mich darüber freuen und es genießen, endlich mal wieder warme Hände und Füße zu bekommen? Es dauert nur wenige Minuten, bis es von Kinn, Nasenspitze und Ellenbogen tropft. Was für ein Glück, dass ich ein festes Handbuch unter mir liegen habe. Natürlich ist die Stunde auch anstrengend, aber die Wärme intensiviert den Effekt noch um einiges. Wir liegen dicht gedrängt nebeneinander, stehen auf, halten, atmen, versuchen uns in drei lächerlichen Liegestützen. Sind froh, wenn wir nach einer Pose für Sekunden in uns zusammenfallen können. Da wussten wir natürlich noch nicht, was uns am nächsten Tag blüht.
Der zweite Abend ist lang, sehr lang. Die Übungen langsam, sehr langsam. Dazu auch unglaublich intensiv. LSD – long slow deep. Bryan meint beiläufig: ‘Feels like Yin-Yoga on steroids.’ Wie recht er hat. Diese Stunden habe ich in den vergangenen Jahren immer total verdrängt. Nicht weil es langweilig wäre oder keine Freude bereitet. Vielmehr war es die ungewohnte Anstrengung. Diese Tiefe jeder einzelnen Übung, die für mindestens drei Minuten gehalten werden muss. An den kommenden Tagen kann ich mich vor Muskelkater kaum bewegen. Nicht von der Power Yoga Klasse am ersten Abend, sondern von diesen unfassbar lang gehaltenen Posen. Beim Höhentraining auf dem Laufband war ich regelrecht gnatzig, weil ich kaum ein Bein vor das andere setzen konnte. Aufs Rad habe ich es mit Ach und Krach noch so geschafft.
An beiden Abenden bringt Bryan Kest wieder einmal komplett neuen Schwung und eine viel fokussierte Sichtweise in die aktuelle Praxis. Es wird geatmet. So richtig geatmet und – oder besser ausgedrückt, es wird NUR durch den Mund geatmet.
Aber Bryan erinnerte uns auch an so viel mehr innerhalb dieser zwei Tage. Es ist ein all umfassender Workshop, der nicht nur Übungen umfasst. Vielmehr gibt es in Hülle und Fülle Vergleiche, die uns nicht nur helfen entspannter und leichter durch die Yogaklasse zu kommen, sondern auch durch das gesamte Leben. Etwas plakativ vielleicht, vielleicht auch kitschig. Nur wenn wir es schon nicht schaffen konzentriert und entspannt bei dieser einen Sache zu sein. Genau in dem Moment zu sein, in dem wir Ruhe und Sicherheit empfinden können, wie sollen wir es dann im Gewirr der Alltäglichkeit?
Auch wenn es die folgenden Tage etwas schwer erscheint. Bryan erinnert uns an die Regelmäßigkeit unserer Yogapraxis. Denn wie bei so vielen Dingen ist ein Mal nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Er möchte uns aber nicht verbessern oder etwas erzwingen. Er möchte einfach nur uns selbst sein lassen. Unser bestes Ich, das wir in diesem Moment sein können. Konzentriert, wach, mit Nachsicht praktizierend, als würden wir ein kleines Kind vom Mittagsschlaf vorsichtig wecken. Das sollen wir uns immer vor Augen halten! Und nicht das Spiegelbild, das uns am Morgen nicht gefällt und das wir verbessern möchten. Oder dem Gegenüber, dem wir nacheifern oder uns sogar mit ihm messen wollen. Den Anspruch an uns selbst sollen wir etwas drosseln zugunsten von Regelmäßigkeit, Nachsicht und das tatsächliche Erleben jeder einzelnen Pose in jedem Moment unseres Lebens. Jeder von uns muss sich mit einer Vielzahl von Dingen im Leben beschäftigen. Das Zurücklassen, um ganz bei sich zu sein, ist unser Ziel für diese Abende.