Egal, ob er nun innerhalb einer Trilogie von inzwischen weltbekannten Kriminalromanen ("Die Algier-Romane") den algerischen Bürgerkrieg der 1990er und die Transformation des Landes scharfsinnig und anklagend untersucht - was seine zwangsweise Exilierung zur Folge hatte oder den belletristischen Schriften um den sogenannten Nahostkonflikt eine wichtige erzählerische Facette hinzufügt, bei der der Massenmörder (mit Sprengsatz in einem öffentlichen Verkehrmittel) kein sozial auffälliger, ideologisch verblendeter Theokrat mit ländlicher Sozialisierung ist, sondern eine integrierte Frau der Mittelschicht ("Die Attentäterin") - er setzt den europäischen und westlichen Stereotypen und Verkürzungen eine eindeutige Vielschichtigkeit entgegen, die die "Erklärungsansätze" manch eines Kulturkriegers voller Hohn bloßstellen.
Er stellt eine der wichtigsten Stimme der islamischen Welt dar, welche sich mit großer Offen- und Direktheit gegen den dschihadistischen Islam positionierte und gleichzeitig vom "Westen" ein größeres Maß von glaubwürdigem Engagement in der Auseinandersetzung mit "nichtwestlichen" Kulturen einfordert. Khadra hat in seiner schriftstellerischen Karriere, welche in seiner Zeit als Militärangehöriger noch durch die scharfen Zensurbedingungen erschwert war, etliche Topoi des sogenannten "Kampf der Kulturen" aufgegriffen. Er nähert sich diesen Feldern jedoch aus einer dezidiert muslimischen Perspektive und macht durch diese Positionierung die inzwischen stark perpetuierten westlichen Stereotypen gegenüber der komplexen islamischen Welt sichtbar und hinterfragt, ob die Vorwürfe der Rückständigkeit und Brutalität tatsächlich für alle Formen der islamischen Gemeinwesen Geltung besitzen - rhetorische Frage, versteht sich.
Man kann Khadras Schriften durchaus als eine Form des literarischen Antidots gegenüber der alles muslimische unterschiedslos diffamierende und daher hetzerischen Islamkritik verstehen, er erkennt die ideologische Raserei der Extremisten an, setzt aber auch ihre Anzahl in Verhältnis zu der Gesamtzahl aller Muslime. In seinem kurzen Roman "Wovon die Wölfe träumen" zeichnete er in erschreckender Deutlichkeit den Weg der Radikalisierung eines jungen Algeriers nach, welcher in Kontakt mit radikalen Predigern und Aktivisten gerät und später sein Leben im dschihadistischen Untergrundkampf verliert. Die Motivation sich diesen Kreisen anzuschließen basierte jedoch nicht auf einem geschlossenen ideologischen Konzept, sondern resultiert aus einer großen Anzahl von unglücklichen Fügungen. Khadras Figuren sind ein Spiegelbild der modernen islamischen Gesellschaften und stellen daher eine wichtige Ergänzung zu den vorherrschenden Meinungsdynamiken dar.
In "Die Schwalben von Kabul" behandelte er den ideologischen Furor eines theokratischen Gesellschaftssystems und lieferte in einer kurzen, eindrucksvollen und schmerzhaften Szene eine Innenansicht eines Lebens unter dem Schleier der Burka. Während die westliche Kritik sich zumeist an der Aussenperspektive dieser entmündigenden Kleiderordnung abarbeitet und diese Herrschaftspraxis abstrakt erklärt, liefert er einen individualisierten, konkreten Einblick und somit einen weiteren wichtigen Baustein der Wahrnehmung komplexer gesellschaftlicher Formationen.
Bei dtv liegt nun die Taschenbuchfassung seines vorletzten Romans "Die Sirenen von Bagdad" vor, in welchem er erneut von der Radikalisierung eines namenlos bleibenden jungen Mannes mit ländlicher Herkunft spricht.
Auch hier sind es keine deterministischen Entscheidungen, welche den Mann in die Arme des radikalen Widerstands treiben, sondern die Summe verschiedenster Erfahrungen. Er wird Zeuge der Erschießung eines geistig Behinderten, den die Truppen eines Checkpoints fälschlicherweise als Gefahr betrachten. Khadra argumentiert niemals in vereinfachten Schemata, sondern bildet die schiere Panik der Truppen vor einem Anschlag glaubwürdig ab.
Dieser Tod ist keine Hinrichtung aus rassistischen Beweggründen, sondern ein bedauerlicher Unfall innerhalb einer von Angst, Gewalt und Unverständnis vergifteten Umgebung - eines Krieges in dem sich beide Parteien aufgestachelt durch Kulturkampfrhetoriken unversöhnlich gegenüber stehen - es existiert kein Dialog, keine Chance auf Verständigung. Es ist ein ohnmächtiger Krieg - beiderseits.
Dennoch bildet der Vorfall den glaubhaften Beginn seiner Radikalisierung. Als bei einer Razzia in seinem Heimatdorf, welches lange Zeit von der Verheerungen des Krieges verschont blieb, sein Vater durch amerikanische - mit den kulturellen Tabus der Bevölkerung vollkommen unvertrauten - Truppen nackt aus dem Bett gezerrt wird und eine Hochzeitsgesellschaft im Nachbardorf Opfer eines fehlgeleiteten Raketenangriffs wird fällt er ein folgenschwere Entscheidung, welche ihn am Ende in die Arme einer Terrorgruppe treibt, deren Ziel ein infernaler Anschlag mit biologischen Waffen ist.
Parallel zu dieser Handlung skizziert Khadra in einer weit reichenden Meditation die Motivation der Akteure des irakischen Widerstands - welche kontrovers über den Nutzen des Widerstands und seine zulässigen Methoden streiten. Während manche warnend versuchen auf den Protagonisten einzuwirken, peitschen andere die Emotionen bewusst hoch und schrecken vor brutalsten Attacken (auch auf Unschuldige) nicht zurück. Dem Roman gelingt der Balanceakt zwischen der belletristischen Ausschmückung einer zutiefst moralischen Dichtung und der unterkühlten politischer Analyse der Überbietungsgesten radikaler Gruppen.
Khadras Gespür für die vorherrschende Ohnmacht vieler jungen muslimischer Männer macht die Darstellung dieses Abstiegs in die Hölle des Terrorismus plausibel und begreiflich, seine feine soziale Sensorik für die Befindlichkeiten islamischer Gesellschaften zeichnet ihn als ein wichtiges Bindeglied der Verständigung zweier Welten aus, die sich gegenwärtig mit großer Geschwindigkeit voneinander entfernen.
Im Titel des Romans ist so vieles angelegt, die Uneindeutigkeit des Begriffs der Sirenen lässt eine Vielzahl von Deutungen zu, sind die Signalhörner der Rettungskräfte, welche sich ihren Weg durch die vom Terror und Krieg gleich mehrfach geplagte Stadt suchen gemeint oder ist es die Sehnsucht eines jungen verwirrten und zornigen Mannes nach der Weite einer Stadt, in deren Eingeweiden er den ideologischen Verlockungen durch Menschenfänger anheim fällt.
Diese kluge - und natürlich subjektive - Schilderung der Rekrutierungsmethoden von Teilen des irakischen Widerstands wirft ein erweitertes Schlaglicht auf einen Krieg, dessen (Mit-)Auslöser ein ehemaliger Günstling des Westens war und dessen augenscheinliche Ungeplantheit sich in dem himmelschreienden kulturellen Unverständnis der Truppen widerspiegelt.
Soldaten, die ohne Exitstrategie zwischen die Fronten eines Krieges geraten sind, dessen Wurzeln in einer Vielzahl von politischen Unwahrheiten gründen und die konfrontiert sind mit einer Bevölkerung auf deren Befindlichkeiten sie niemals vorbereitet wurden. Der Soldat Khadra entstellt die Akteure der Besatzung nicht zu ideologischen Zerrbildern, sondern legt vielmehr die strukturellen Grundlagen des offenkundigen Scheiterns dieses Krieges offen - die ein Opfern der eigenen Truppen billigend vorsehen.
Für mich ein wichtiges Buch, welches auf die leider häufige Schwarzweißzeichnung dieses, auch medial geführten, Kriegs verzichtet und durch ein unbequemes Hinterfragen der westlichen Deutungsmuster die notwendige Komplexität für einen gemeinsamen Dialog über die Beendigung dieses Konflikt schafft - daher wird es von einem überzeugten Pazifisten wie mir natürlich begrüßt und somit gebe ich auch gerne die Flaneurempfehlung. Hier könnt ihr dieses lohnende Buch kaufen - vertraut mir.