Wut und Rebellion. Fatma Aydemir und ihr Debüt „Ellbogen“

Wut und Rebellion. Fatma Aydemir und ihr Debüt „Ellbogen“Es ist so da und es ist so heftig, dass man es fast anfassen kann. Wut. Meine ist so groß, dass sie nicht in mich hineinpasst. Sie droht meine Haut zu sprengen, mich von innen aufzufressen und wieder auszuspucken … Gül holt endlich die Ballerinas aus ihrer schweren Tasche, schmeißt sie heftig auf die deutschen Pflastersteine (S. 114).

Hazals Wut ist die Wut einer Achtzehnjährigen. Stunden, bevor es zu der gerade geschilderten Situation kommt, ist da schon ein Stechen, später ein Pochen im Kopf, weil Hazal mal wieder voller Hass auf ihre Mutter ist. Die ihr mit ihren ewigen Forderungen nach heißem Çay – begleitet vom Klingeln des Löffelchens im leeren Glas – extrem auf die Nerven geht. Irgendwann tief in der Nacht ist es dann nur noch totaler Kontrollverlust und krasse Wut. Eine Wut, die ihr Ventil in brutaler Gewalt gegen einen ahnungslosen deutschen Studenten findet. Alles geht so rasend schnell, dass sich in meinem Kopf ein Rauschen einstellt und ich im Text zurück gehe, um die zwei Seiten erneut zu lesen. Hab ich diese Szene auf der U6 am Bahnhof Friedrichstraße eben richtig verstanden? Ja, ich habe! Werde ich jemals wieder an diesem Bahngleis stehen können ohne diese Bilder im Kopf? Denn natürlich stellen sich hier bei der Lektüre sofort Videoaufnahmen von Gewaltszenen in U-Bahnhöfen ein. Doch sind es dort immer männliche Täter.

Fatma Aydemir erzählt am Abend der Buchvorstellung in der Joseph-Roth-Diele in Berlin, dass sie schon vor Jahren diese schockierenden Bilder in ihrem Kopf hatte, bis daraus die Idee zu einem Roman entstanden ist. Schließlich kam Hazal als Protagonistin dazu. Später deren Freundinnen Elma und Gül. Sie lässt diese drei jungen türkischen Frauen aus dem Berliner Wedding eine Gewalttat begehen, die deren Leben für immer verändert.

Hazal geht schließlich nach Istanbul. Eine Rückkehr ist praktisch unmöglich.

Mich fasziniert an Hazals Geschichte, dass hier ein Mädchen so extrem rebelliert. Erbarmungslos und ohne Reue. Ausgelöst durch jahrelangen starken Druck im traditionellen Elternhaus und in der Schule. 50 Bewerbungen abgelehnt. Immer wieder das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Nicht mal in den begehrten Club zu kommen. Warum müssen die drei Mädchen draußen bleiben? Sie wissen es nicht. Vielleicht hätten sie besser dreckige Turnschuhe statt ihrer Nuttenschuhe tragen sollen? Vielleicht wären sie besser aus Polen oder aus Spanien –

Bilder aus dem Film Gegen die Wand tauchen auf. Auch Sibel aus Fatih Akins Story geht am Ende nach Istanbul. Manche Filmszenen sind so brutal, dass mich ein fast physischer Schmerz durchzuckt. Sibel jedoch scheint körperlichen Schmerz kaum zu spüren, fast glaubt man, sie würde ihn brauchen, um den seelischen Schmerz ertragen zu können. Auch sie provoziert nachts junge Männer auf der Straße. Am Ende jedoch ist es sie selbst, die blutig und zusammengeschlagen auf den Istanbuler Pflastersteinen liegt. Im Gegensatz zu Sibel wirken die drei Mädchen Elma, Gül und Hazal in ihrem Party-Outfit wie drei wütende schwarze Engel, die für das Ausleben ihrer Aggression ein Opfer brauchen. Wozu sich selbst verletzen? Später sagt Hazal, der deutsche Student hätte die Mädchen provoziert. Und dann hieß er auch noch Thorsten! Wie kann man so einen Namen haben, fragt sich Hazal. Reue? Mitleid? Im Gespräch mit ihrer Tante Semra sagt Hazal:

Vielleicht hört sich das jetzt total gestört an … Sorry, aber so fühle ich. Mir tut es überhaupt nicht leid. Wenn ich die Sache wieder erleben würde, würde ich es vielleicht nicht wiederholen. Weil der Typ uns das Leben versaut hat. Uns allen dreien. Aber nur deswegen (S. 244).

Hazal hat so gar kein schlechtes Gewissen. Ihrer Meinung nach hat der Typ ihr Leben und das ihrer Freundinnen versaut. Hallo? Menschenrechte?, möchte ich rufen und meine Arme dabei fragend in die Luft heben. So wie Hazal auf Seite 43, als ihre Mutter ihr mitteilt, dass sich mit ihrer Volljährigkeit nichts ändern würde. Doch dann lese ich am Ende den Satz von der Scham, welche schlimmer ist als die Angst. Dass Scham einem den letzten Verstand rauben kann (S. 270). Und ich glaube, zu verstehen, dass Hazal lieber mit der Angst weiterleben möchte, als sich jemals der deutschen Polizei zu stellen. Dennoch bleiben Fragen offen. Wird Hazal später ihre Meinung ändern und irgendwann ihre Rolle als Täterin erkennen? Wird sie irgendwann nach Berlin zurück gehen? Wenn sie in der Türkei bleibt, was wird sie dort tun? Sie ist gerade mal 18 Jahre alt, ohne Job, ohne Familie, ohne Freunde. Ein starkes, aufwühlendes Debüt, ein wichtiges Buch. Weil es dazu anregt, nachzudenken, Fragen zu stellen und darüber zu reden. Und weil Hazal dieses großartige, sehr wilde und die Freiheit liebende Mädchen ist.

Fatma Aydemir. Ellbogen. Hanser Literaturverlage München. 2017. 271 Seiten. 20,- €



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