Wundervolle Aussichten

Von Hillebel
Clara hat ein Haus in Südfrankreich geerbt. Sie fährt hin, um es zu verkaufen, denn ihr Verlobter Torsten und sie brauchen das Geld für ihren eigenen Hausbau. Aber plötzlich läuft nichts mehr wie geplant …
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Am Flughafen von Marseille-Marignane hatte Clara sich einen Wagen gemietet. Nun befand sie sich, nach einer kurzen Zwischenstation in Arles, in den Bergen der Alpilles, der “kleinen Alpen” der Provence. Die kurvenreiche Strasse stieg immer höher an, und plötzlich tauchte hinter der letzten Biegung ihr Reiseziel auf - ein mittelalterliches Dorf. Die ockerfarbenen Häuser leuchteten im Sonnenlicht. Clara war hierhergekommen, um ein Geschäft abzuwickeln, und sie wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Sie liess den Wagen auf dem kleinen Parkplatz am Eingang des Dorfes stehen und ging nun neugierig durch die schmalen Strassen. Sehr schnell gelangte sie auf den Dorfplatz, dessen Mitte ein alter Steinbrunnen schmückte. Auf einer Bank sassen drei alte Frauen, die sie ebenfalls neugierig, aber durchaus freundlich musterten.
Clara grüsste höflich auf Französisch und fragte, wo sich das Haus von Dr. Frank Olter befände.
Le bon docteur - der gute Doktor sei vor kurzem gestorben, teilte man ihr bekümmert mit.
Das wüsste sie, erwiderte Clara, sie sei seine Tochter.
Die Frauen sprachen ihr mitfühlend ihr Beileid aus, dann bestand eine der Frauen darauf, Clara zu begleiten: “Allein werden Sie das Haus nicht finden”, meinte sie. Langsam führte sie Clara durch gewundene Gassen und über aufsteigende Treppen bis zu einem einstöckigen Steinhaus. Im Vorübergehen hatte die junge Frau viele halb zerfallene Häuser gesehen. Ein aussterbendes Dorf, hatte der Notar in Arles skeptisch gemeint.
“Hier ist es”, sagte die alte Frau und fügte hinzu: “Ihr Vater war ein guter Mensch. Er fehlt uns allen sehr.”
Clara nickte stumm. Was sollte sie auch sagen? Sie hatte ihn ja kaum gekannt.
“Ich denke, es wird auch keinen Nachfolger für ihn geben, wer wird sich schon hier in unserem kleinen Dorf niederlassen wollen? Die jungen Leute ziehen ja alle fort,” seufzte die alte Frau.
Nachdem sich Clara bei ihr bedankt und ihre Begleiterin gegangen war, schloss sie auf und betrat das Haus ihres Vaters. Als erstes öffnete sie die blau gestrichenen Fensterläden, durch die nun das Licht strömte. Unten befand sich ein kleines Wartezimmer, die Praxis und eine rustikale Wohnküche mit Kamin und einem grossen Holztisch. Eine Tür am Ende des Flurs führte in einen kleinen Innengarten, in dem unter einem Feigenbaum ein runder Steintisch und zwei Eisenstühle standen. Oben im Haus entdeckte sie einen Bodenraum, ein Bad und ein hübsches, mit provenzalischen Möbeln eingerichtetes Schlafzimmer.
Aber das Schönste war der Ausblick. Man konnte von hier weit über die grünen Hügel der Provence sehen.
Am nächsten Tag klingelte Claras Handy. Es war ihr Verlobter Torsten: “Was ist los, Clara? Warum ruft du nicht an? Ich mache mir Sorgen.”
“Das brauchst du nicht, es ist alles in Ordnung. Ich bin gut angekommen.”
“Gibt es irgendwelche Probleme?”
“Nein, eigentlich nicht.”
“Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wie ist das Haus? Hoffentlich ist es keine Bruchbude?”
“Es ist ein einfaches Haus, aber keine Bruchbude.”
Sie hörte, wie er erleichtert aufatmete: “Dann müsste es sich also ohne grössere Schwierigkeiten verkaufen lassen. Es wäre natürlich günstiger, wenn es am Mittelmeer läge als in diesem gottverlassenen Bergdorf. Hast du schon eine Immobilienagentur ausfindig gemacht? Komm bald zurück, Schatz. Und ruf mich an, sobald es etwas Neues gibt, okay?”
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Clara rechnete nach. Jetzt war sie schon seit einer Woche hier. Torsten hatte Recht. Sie musste die ganze Angelegenheit endlich in die Hände einer Immobilienagentur geben. Sie brauchten das Geld für den geplanten eigenen Hausbau. Aber jeder Tag in diesem Haus und im Dorf brachte ihr den Vater näher …
Bei der Durchsicht seiner Sachen hatte sie im Schreibtisch einen dicken Umschlag gefunden, auf dem ihr Name stand. Er enthielt nie abgeschickte Briefe an sie. Sie hatte sich vom Vater vergessen geglaubt, und jetzt stellte sie fest, dass er jeden Tag an sie gedacht hatte. Aus diesen Briefen und den Erzählungen der Dorfbewohner hatte sie sein Leben rekonstruieren können.
Frank Olter lernte Claras schöne Mutter Franziska als junger Mediziner kennen. Ihr zuliebe trat er in die Privatklinik ihres Vaters, eines bekannten Schönheitschirurgen, ein.
Claras Geburt hatte ihn überglücklich gemacht, aber seine Arbeit liess ihm kaum Zeit für das Kind. Darüber hinaus gab es zahlreiche gesellschaftliche Verpflichtungen, auf die Franziska grossen Wert legte. Clara wurde von einem Kindermädchen versorgt. Als sie drei war, unterlief ihm aus Übermüdung ein gravierender Fehler bei einer Schönheitsoperation. Die Versicherung zahlte, aber Frank versank in tiefe Depression. Ein halbes Jahr später bat Franziska ihn um die Scheidung. In der Klinik war er nach der Scheidung und seinem Kunstfehler unerwünscht. Ebenso als Vater für Clara, wie Franziska ihm unmissverständlich zu verstehen gab. Weil er seine Tochter nicht in hässliche Rechtsstreitigkeiten hineinziehen wollte, brach er alle Brücken hinter sich ab und ging nach Südfrankreich. In einem Zusatzstudium erwarb er die Berechtigung, in Frankreich zu praktizieren. Dann liess er sich hier in diesem kleinen Ort nieder, in dem es seit Jahren keinen praktischen Arzt mehr gegeben hatte. Reichtümer hatte er nicht verdient, aber es hatte ihn glücklich gemacht, hier seinen Beruf ausüben zu können. In seiner Freizeit machte er lange Wanderungen in den Bergen. Die letzte war ihm zum Verhängnis geworden, er war abgerutscht. Man hatte ihn nur noch tot bergen können.
Als hätte er eine Vorahnung gehabt, bat er Clara in seinem letzten Brief, seine Asche im Bergmassiv zu zerstreuen. Das hatte sie gestern getan.
Sie dachte an ihre Mutter, die heute mit ihrem zweiten Mann, einem Manager, in Amerika lebte. Und an Torsten, ihren gutaussehenden Verlobten. Sie hatten sich vor zwei Jahren kennen gelernt, als sie auf einem internationalen Kongress in Nizza dolmetschte. Er hatte sofort um die schöne junge Frau mit den veilchenblauen Augen geworben. Und liebte sie, Clara, ihn nicht auch? Ja, gleich morgen würde sie eine Immobilienagentur in Arles mit dem Verkauf des Hauses beauftragen. So teuer wie möglich, hatte Torsten gemahnt.
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Clara war wieder zu Hause und arbeitete gerade an einer Übersetzung, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Es war Martin, der wie sie als Dolmetscher und Übersetzer tätig war und ganz in der Nähe wohnte. Sie kannten sich vom Studium her. Clara liebte ihn wie einen Bruder, und sie hatte ihn umsichtig gepflegt, als er kürzlich an einer schweren Bronchitis erkrankt war. Er sah noch immer ziemlich mitgenommen aus.
“Martin, wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?” fragte sie, nachdem sie ihm geöffnet hatte.
“Schon viel besser, Dank dir. Hoffentlich störe ich dich nicht bei der Arbeit?”
“Überhaupt nicht. Ich konnte mich sowieso nicht mehr konzentrieren.”
Sie führte ihn in das kleine, hübsch eingerichtetes Wohnzimmer: “Warte, ich koche uns Tee.”
Er folgte ihr in die Küche und fragte: “Und? Bist du das Haus schon los?”
“Nein”, seufzte sie, “dabei steht es schon seit drei Monaten zum Verkauf.”
Nachdenklich meinte er: “Eigentlich ist es ja jammerschade, es zu verkaufen. Ich kenne die Gegend, sie ist wunderschön. Warum behaltet ihr es nicht einfach als Ferienhaus?”
“Wir brauchen das Geld für den Hausbau, Martin.”
“Weil Torsten natürlich eine Luxusresidenz vorschwebt.”
Das stimmte. Clara wäre mit einem einfacheren Haus zufrieden gewesen, aber Torsten hatte den ganzen Winter über so begeistert über den Plänen gesessen, die ein befreundeter Architekt für sie angefertigt hatte, dass sie ihm die Freude nicht hatte nehmen wollen.
Plötzlich kam ihr eine Idee: “Reden wir mal von dir, Martin”, sagte sie, nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte. “Dein Arzt hat doch gesagt, dass du Sonne brauchst, um deine Krankheit auszukurieren? Warum fährst du nicht für eine Weile in mein Haus? Deine Übersetzungen kannst du auch da machen, und wenn du irgendwo in der Welt dolmetschen musst: Der Flughafen von Marseille-Marignane ist nicht sehr weit weg.”
Martin dachte eine Weile nach, dann fing er an zu strahlen: “Also, das scheint mir wirklich eine gute Idee zu sein, ich nehme sie mit vielem Dank an. Und wenn Leute sich das Haus ansehen möchten, kann ich sie herumführen und ihnen das Dorf zeigen. Und selbstverständlich räume ich das Feld, sobald der Verkauf perfekt ist.”
Als Torsten davon erfuhr, regte er sich masslos auf.
“Aber Torsten, bis jetzt hat sich sowieso noch kein Käufer gefunden”, verteidigte Clara sich und den Freund. “Martin wird die Ruhe und die Sonne gut tun. Ich werde wohl auch mit dem Preis heruntergehen müssen.”
“Kommt nicht in Frage! Die Nordländer sind doch verrückt nach einem Haus im Süden. Die zahlen alles dafür. Wir haben noch ein bisschen Zeit, um einen Käufer zu finden.”
“Wäre es nicht schön, es einfach zu behalten? Für die Ferien? Und als Andenken an meinen Vater?”
Ungläubig sah er sie an: “An einen Vater, der dich verlassen hat, als du drei warst und der sich ohnehin nie um dich gekümmert hat?” Dann lächelte er nachsichtig: “Claraschatz, es ist wohl normal, dass du jetzt deinen Vater verklärst, aber verdient hat er das absolut nicht. Ausserdem willst du doch nicht, dass wir unsere Ferien in einem Ort verbringen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen?”
Clara nickte zwar, aber etwas in ihr begehrte jetzt auf …
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Während die Grillen ihr durchdringendes Sommerkonzert veranstalteten, lauschte Martin auf dem Platz den drei alten Frauen, die ihm wieder einmal Geschichten von früher erzählten. Früher, als das Dorf noch bewohnt war, als die Männer ihre Felder unten bestellten, als es noch Esel und stämmige Pferde in den Ställen neben den Häusern gab, als sich die Frauen um die Kinder und das Geflügel kümmerten, Marmelade kochten und Obst und Gemüse für den Winter einmachten. Ein bisschen Sehnsucht schwang in ihren Stimmen mit, selbst wenn sie sich einig waren, dass das Leben damals hart war. Oft gingen die Kinder nicht zur Schule, weil sie auf den Feldern helfen mussten, der Lehrer drückte seufzend ein Auge zu. Martin nahm ihr fröhliches Lachen auf den Rückweg mit. Es ging ihm schon viel besser, der Husten war weg, bei seinen Spaziergängen in der wunderschönen Umgebung war er braun geworden, und er ermüdete auch nicht mehr so schnell, wenn er an einer Übersetzung arbeitete. Er lebte jetzt seit zwei Monaten hier, ein englisches und ein holländisches Paar und ein Pariser Junggeselle hatten das Haus besichtigt. Er hatte alles getan, um es in seinem besten Licht erscheinen zu lassen, aber ihr Urteil lautete einstimmig: der Ort war zu arm, zu abgelegen. Obwohl Clara die Agentur ermächtigt hatte, den Preis zu senken, fanden sie es dennoch zu teuer.
Er war fast am Haus angekommen, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche und meldete sich.
Als er das Gespräch beendet hatte, blieb er nachdenklich stehen. Es war Clara gewesen. Sie hatte ihre Verlobung mit Torsten gelöst und brauchte jetzt auch das Haus. Gleich morgen würde sie kommen. Ob er sie nachmittags am Flughafen abholen könne? Sie nannte ihm die genaue Uhrzeit.
“Aber selbstverständlich hole ich dich ab”, hatte er ihr versichert. Er hatte vorgeschlagen, ihr das Haus zu überlassen und nach Deutschland zurückzugehen, aber sie hatte leise gesagt: “Bitte bleib, ich brauche dich.”
Am nächsten Morgen bezog er das Bett für Clara neu. Er würde unten in der Praxis schlafen. Dann fuhr er in den grösseren Nachbarort, um einzukaufen: Lammfleisch, Obst, Salat, frischen Ziegenkäse … Nachmittags fuhr er zum Flughafen.
“Es ist, als käme ich nach Hause”, sagte sie, als das Dorf in der glutrot untergehenden Sonne vor ihnen lag.
Sie bestand darauf, zusammen mit Martin das Abendessen zuzubereiten. Das Lammfleisch grillten sie im Innenhof, dort hatte Martin auch den Tisch gedeckt.
“Und nun erzähl”, forderte Martin sie nach einem forschenden Blick auf ihr blasses Gesicht auf. Rasch schenkte er ihnen noch Wein ein und prostete ihr zu.
Clara ass ein paar Bissen und trank einen Schluck Wein. Dann erzählte sie Martin, was vorgefallen war. “Weisst du, ich habe mich irgendwie verändert, seit ich zum ersten Mal hier war. Ich verstand immer weniger, wie man derart hinter Geld und Besitz herjagen kann, wie Torsten es tut. Wir fingen an, uns zu streiten. Immer öfter kam er abends spät nach Hause, und schliesslich überhaupt nicht mehr. Er behauptete, bei seinen Eltern zu schlafen, dort hatte er immer noch sein Zimmer, und von dort sei es näher zu seiner Arbeit, aber vor einigen Tagen entdeckte ich, dass er mich betrog. Torsten griff mich daraufhin an, dass er mich nicht wiedererkennen würde, seit ich aus diesem gottverdammten Nest - das waren seine Worte - zurückgekommen wäre. Nach einer Aussprache haben wir beschlossen, uns zu trennen. Die Wohnung war ohnehin auf seinen Namen gemietet, selbst wenn wir uns die Miete teilten. Ich habe die nötigsten Sachen hierher mitgebracht - den schweren Koffer, den du getragen hast - und den Rest bei Freunden gelassen. Später werde ich weitersehen, aber erst möchte ich wirklich zu mir finden.”
“Das tut mir alles so leid”, sagte Martin mitfühlend, und dann grinste er ein bisschen: “Nein, das stimmt nicht. Es tut mir leid, dass du so blass bist und so erschöpft aussiehst, aber, wie du es jetzt ja auch an mir siehst, tut es einem ausserordentlich gut, hier zu leben!”
Nun lächelte sie auch: “Ja, du bist wirklich das beste Beispiel dafür. So schön braungebrannt und fit. Übrigens hatte ich schon beschlossen, das Haus hier zu behalten, ich habe bereits mit der Immobilienagentur telefoniert. Das Leben hier gibt mir so viel.”
“Sogar das Lachen kann man hier wieder lernen.”, sagte er und erzählte von den drei alten Frauen auf dem Dorfplatz.
“Die kenne ich auch”, erwiderte sie warm. “Sie sind wunderbar und so hilfsbereit.”
Als es dunkel wurde, holte Martin ein Windlicht. Als er es auf den Tisch stellte, war Clara, als sähe sie ihn zum ersten Mal: sein markantes Gesicht, die ausdrucksstarken Augen. Er wirkte so männlich mit seinen ruhigen, besonnenen Bewegungen. Und er liebte dieses Haus genau wie sie. Eine warme Woge von Zuneigung überflutete sie. Nur Zuneigung? Nein, es war mehr, denn plötzlich konnte sie sich eine Zukunft mit ihm vorstellen. Ja, es war Liebe. Und auf einmal träumte sie. Wahrscheinlich würden sie in Deutschland leben, aber hier würden sie Ferien machen. Sie sah schon zwei süsse Kinder hier im Haus und im Dorf herumlaufen. Zwischen Torsten und ihr waren Kinder seltsamerweise nie ein Gesprächsthema gewesen. Versonnen lächelte Clara vor sich hin.
Martin seinerseits dachte daran, dass er Clara schon an der Uni geliebt hatte. Aber er hatte ihr seine Liebe nie gestehen können, weil sie ihm von Anfang an klargemacht hatte, dass sie in ihm nur einen Bruder sah, den Bruder, den sie nie gehabt hatte. Aber jetzt … jetzt sah sie ihm in die Augen, und ihr Blick wühlte ihn auf.
“Clara”, sagte er leise.
“Oh, Martin”, sie schob ihm ihre Hand über den Tisch hinweg zu. Als er sie warm und beschützend in die seine nahm, wusste sie, dass sie bei diesem Mann die wahre Liebe finden würde, nach der sie sich so sehnte …
ENDE