Wunderliche Worte

ARTus-Kolumne »So gesehen« Nr.550

Dieses Buch sollte wohl zu mir finden.

Ich suchte in einer der großen Stralsunder Buchhandlungen nichts Bestimmtes und fand Bemerkenswertes: einen wunderbar handlichen, moosgrünen Band »Liebesgedichte« des Jahres 2011. Ein Buch ohne Schutzumschlag, aber mit tanzenden Worten aus Gold auf dem Einband. Unglaublich!

Es erinnerte mich an die frühen von John Heartfield gestalteten Malik-Bücher, an seine unübertroffen in Szene gesetzten Ehrenburg- und Tolstoi-Ausgaben. Was für ein Weihnachtsgeschenk! Aber für wen?

»Wehe, wirre, wunderliche Worte«, so der mich umgehend neugierig machende Titel des Buches, den Ulrich Tukur für seine Auswahl deutscher Liebesgedichte fand, mit dem rückseitigen Satz, der sich später als Halbsatz und so gesehen im Ganzen als Sprengsatz erwies: »Meine Ängste, meine Unruhe, meine Sehnsüchte und Seligkeiten – da waren sie in funkelnde Worte gefasst.«

Die vom Verlag Ullstein beabsichtigte Neugier war geweckt. Nun wollte ich mehr lesen und las mich schon im Vorwort fest, in welchem sich die Fortsetzung des Titels findet: »… und ahnend begriff ich das Geheimnis des Lebens und erstarb vor Bewunderung für seine Dichter.«

So kann nur ein Schauspieler reden. Doch wohl einer der besten, den man heute, einer Frau wegen in Venedig (wo sonst?), finden kann. Einer, der in seinen Rollen immer wieder überrascht und dafür Preise abräumt. Einer, der schon als Erzähler mit »Venezianische(n) Geschichten« debütierte. Aber wie!

Und nun als Herausgeber fungiert, der von A wie Rose Ausländer bis W wie Frank Wedekind Dichterschätze hebt. Da grüßt die Hiddensee-Urlauberin Mascha Kaléko mit dem zur Qual werdenden »Das letzte Mal« und dem gnadenlos sezierenden Gedicht »Grossstadtliebe«. Ringelnatz ist mit drei Gedichten vertreten, darunter mit der nur in enger Zweisamkeit genießbaren »Pipi«-Eloge. Kurt Schwitters, der einst mit der Hannah Höch im Sommer Rügen besuchte, kann nun auch im Winter deklamiert werden: »A–N–N–A!«

Ja. Ja. Ein Vielfachschatz ist da. Vom Tukur gehoben, köstlich verwoben. Ein Geschenk für Leser und unter ihnen ganz besonders zugeeignet den Liebenden, den Trost Suchenden, den immer noch, immer wieder Hoffenden.

Tukur: »Ein Leben ohne Gedichte, diese kleinen Leuchtfeuer in der Dunkelheit, ist mir auch heute nicht vorstellbar. Neben der Furcht vor dem Tod ist die Erfahrung der Liebe das Prägendste und Tiefste, was einem Menschen im Laufe seines Daseins widerfährt, und bewußt oder unbewußt ist er auf der steten Suche nach dem Anderen, der ihn erst ganz und vollständig macht.«

Ich danke Ulrich Tukur für sein Gabe unter der Tann, die ich, bei aller Liebe, nun wirklich nicht weitergeben kann. ARTus

ARTus ist eine wöchentliche Kolumne von Walter G. Goes (Bergen/ Rügen)

Wunderliche Worte

Der Schauspieler Ulrich Tukur, Jahrgang 1957, gab eine Auswahl deutscher Liebesgedichte heraus. Zeichnung: ARTus



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