Das folgende Erlebnis liegt schon einige Wochen zurück, doch noch immer frage ich mich nach dem “Warum?”.
An einem Morgen im September war ich mit Nepo auf unserem Lieblingsspielplatz. Wir waren alleine, bis auf zwei andere Mütter. Eine kannte ich, da sie auch immer um die Uhrzeit da ist. Die andere Mutter hatte ich vorher noch nie da gesehen und seit diesem Tag auch nicht wieder.
Als beide ihre Kinderwagen geparkt hatten, liefen sie mit ihren Kindern über den Spielplatz. Also, die mir bekannte Mutter lief und ihre Tochter ebenso. Der Junge der anderen Muttern wollte eigentlich los krabbeln, aber die Mutter zog ihn hoch und sagte “Nicht mehr krabbeln, wir wollen doch laufen.” Also “führte” sie ihn an den Händen. Der Junge war etwa so alt wie mein Sohn, er fiel immer wieder hin. Ließ sie ihn los, ließ er sich sofort wieder fallen und wollte krabbeln. Wenn sie ihn führte, dann wackelten seine Hüften hin und her. Hielt sie ihn nur an einer Hand, fiel er sofort wieder. Den Vogel hat sie dann aber abgeschossen, als sie zu der anderen Mutter sagte: “Wir glauben ja, er hätte früher freies laufen gelernt, wenn wir ihn nicht an den Händen genommen hätten.”
Als ich diese Szene beobachtete, zog sich in mir alles zusammen. Ich bin sicher keine Vorzeige-Mama und habe auf jeden Fall auch meine Baustellen, aber jedes Mal, wenn ich solche Situationen sehe, frage ich mich nach dem “WARUM?”.
- Warum muss das Kind laufen, wenn es OFFENSICHTLICH noch nicht bereit dafür ist?
- Warum reden Mütter in der Theorie von “mein Kind ist auf Augenhöhe” oder “dem wichtigen Freiraum fürs Kind”, wenn sie dann in solch einer Situation den “Führer” raushängen lassen. Ob die besagte Mutter so eine gespaltene Persönlichkeit kann ich nicht sagen, aber ich kenne einige Mütter, die eben die eine Ansicht vertreten und die andere dann leben.
- Warum darf das Kind nicht entscheiden, wann es den wirklich großen Schritt des freien Laufens macht?
So sehr ich auch hin und her überlege, mir fehlt keine plausible Begründung ein, warum man ein Kind zum “Laufen bringen” sollte. Das ist wirklich die einzige Eltern-Kind-Situation für die das zutrifft, denn für alles andere wie Impfen, Ernährungsweise, Stillen, Tragen, Schlafen gibt es ein Für und Wider, aber hierfür. Also mir fällt nichts ein. Euch vielleicht?
Ehrlich gesagt, dachte ich eigentlich, dass das “Führen des Kindes” nicht mehr State of the Art ist, aber im Sommer habe ich so viele Mütter auf den Spielplätzen ihre Kinder führen sehen. Auch in Kursen gab es Mütter, die ihre Kinder führte und wir reden hier von Kindern im Alter von 9, 10, 11 oder 12 Monaten. Das man es früher so gemacht hat, kann ich vielleicht noch nachvollziehen, jede Zeit hatte ihre Einstellungen, aber dieses “geführte Laufen” widerspricht meiner Meinung nach vollkommen dem Anspruch des heutigen Erziehens.
Wir waren uns am Anfang der Schwangerschaft sicher nicht in vielen Sachen sicher und haben nach Nepos Geburt viele Dinge der Realität angepasst. Aber es gab eine Sache, die von Anfang an tabu war: Den Kleinen an den Händen führen. Wir haben uns geschworen, dass nur eine Person entscheidet, wann der Kleine die ersten Schritte macht: Nämlich er selbst.
Sicher, als er dann plötzlich anfing, haben wir ihn auch “motiviert” in dem ich mich in die andere Ecke unseres überschaubaren Wohnzimmers gesetzt habe und ihm die Arme entgegengestreckt habe. Aber um in meine Nähe zu kommen, konnte er entweder krabbeln oder laufen.
Ich kann mich noch genau an die ersten Wochen erinnern, als er das Laufen für sich entdeckt hatte. Er war so glücklich über jeden Schritt den er tat. Auch wenn er oft hin gefallen ist oder nur gerade aus laufen konnte, er war so happy über diese neue Möglichkeit der Bewegung. Als ich die Betreuerin in der offenen Kindergruppe fragte, ob ich für ihn schon Malfarben verwenden kann, damit ich ihm an regnerischen Tagen zuhause etwas anbieten kann, schaute sie ihn kurz an und meinte, dass ich aktuell gar nichts machen muss. Er würde so sehr von der neuen Entdeckung der Bewegung sein, dass er sie sicher noch einige Wochen genießen wird. Ihm jetzt neue Dinge wie Fingerfarbe oder ähnliches zu zeigen, wär vielleicht zu irritierend für ihn.
Da die Betreuerin eine Pikler-Pädagogin ist, war ich überzeugt, dass sie wusste, wovon sie sprach. Ich selbst war über die Antwort erstaunt, aber für mich war es absolut nachvollziehbar. Ich musste nur in sein glückliches Gesicht schauen und beschloss, dass die Malfarben noch eine Weile warten können.
Ich bin der Meinung, dass diese offensichtliche Freude über die Fähigkeit des Laufens bei meinem Sohn daher rührt, dass er es ganz allein geschafft hat. Als er die ersten Schritte tat, waren wir in der Kinderbetreuung und er war ganz allein in der einen Seite des Raumes. Weder ich, noch die Betreuerin, noch andere Mütter waren in seiner Nähe. Ich glaube nicht, dass diese Freude die gleiche wäre, wenn wir ihm diese wichtige Erfahrung genommen hätten, indem wir ihn langsam ans Laufen “ran geführt” hätten.
Vielleicht bin ich aber auch einfach zu sehr auf Montessori und Pikler fixiert, denn schließlich sind das die einzigen Kurse, die wir noch besuchen. Sicher waren die anderen Kurse auch nicht schlecht, aber eben nur dieser “Spiel- und Bewegtraum” trifft wirklich zu 100% das, was ich suche. Gleichwohl finde ich den Büchern von diesen beiden starken Frauen oder auch Jesper Juul Halt und Orientierung. Schon für meine Eltern ist das glaub ich sehr befremdlich, sie meinten wir hätten unseren Sohn schon zu sehr verzogen, weil er bei ihrem Besuch nicht ins Bett gehen wollte. Aber das passt wohl besser in einen Blogpost.
Zurück zum Laufen: Unser Sohn läuft nun schon seit 1,5 Monaten und wird immer sicherer. Sicher fällt er immer wieder hin und es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er wieder aufsteht, weil er entweder keine Lust hat oder einfach die Zeit auf dem Fußweg nutzt, um sich Kieselsteine, Blätter oder Autofelgen anzuschauen.
Auch über die Richtung sind wir uns fast immer uneinig. Gehe ich nach rechts, geht er nach links. Da ich im zweiten Jahr der Elternzeit bin, habe ich mehr Zeit als andere und manchmal laufen wir dann einfach so, wie er will. Möchte ich, dass er in meine Richtung geht, dann mache ich Bewegungen, die an einen Fluglotsen erinnern. Für mich ist das aktuell die einzige Möglichkeit ihn zum Richtungswechsel zu bewegen, denn eins funktioniert bei uns gar nicht: An die Hand nehmen. Er wollte nie, dass man ihn aufstellt und auch durch das freie Laufen war er es nie gewohnt, dass er eine helfende Hand hatte. Und so entzieht er mir immer die Hand, wenn ich ihn dezent in meine Richtung bewegen möchte. Dafür funktioniert die “Fluglotsennummer” mittlerweile ganz gut. Allerdings bin ich mir auch der Herausforderung bewusst, die noch auf mich zukommt, wenn ich ihn wirklich an die Hand nehmen muss, weil wir vielleicht in einer fremden Stadt sind oder er einfach zu schnell wegläuft. Ich habe wirklich noch keinen Plan, wie das funktionieren soll.
Aber jede Zeit bringt ihre Maßnahmen und bis dahin meiden wir große Straßen und belebte Plätze und laufen nur in unserem “Dorf Haidhausen”, in Parkanlagen oder auf dem Spielplatz. Der Sand auf dem Spielplatz ist übrigens die perfekte “Laufübung”. Es hat doch eine gute Zeit gebraucht, bis Nepo sich da sicher durch bewegen konnte.
Der Post ist jetzt etwas länger geworden, schlauer um den Sinn des “geführten Laufens” bin ich auch nicht. Sicher hätte man das googeln könne, aber ich hatte Angst, dass es wirklich Menschen gibt, die mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten diese Einstellung verteidigen würden. Wie gesagt, aus meiner Sicht gibt es für so viele Bereiche Für und Wider, aber dieses Thema, ach ich finde einfach nichts und werde das nächste Mai einfach die Augen schließen und an meine Fehler der Erziehung denken.
Zu guter Letzt habe ich noch ein paar tolle Zitate von Emmi Pikler, Maria Montessori, Elfriede Hengstenberg und Magda Gerber gefunden:
„Wesentlich ist, daß das Kind möglichst viele Dinge selbst entdeckt. Wenn wir ihm bei der Lösung aller Aufgaben behilflich sind, berauben wir es gerade dessen, was für seine geistige Entwicklung das Wichtigste ist. Ein Kind, das durch selbständige Experimente etwas erreicht, erwirbt ein ganz andersartiges Wissen als eines, dem die Lösung fertig geboten wird.“ (Emmi Pikler)
„Ich habe den Kindern möglichst wenig geholfen. Wenn Erwachsene direkt eingreifen, geschieht es leicht, daß die Kinder sich zu wenig auf sich selbst verlassen.“ (Elfriede Hengstenberg)
„Bei allem, was man dem Kind beibringt, hindert man es daran, es selbst zu entdecken.“ (Jean Piaget)
“All children accomplish milestones in their own way, in their own time.” (Magda Gerber)
“Hilf mir, es selbst zu tun. Zeige mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Hab Geduld meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger, vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir Fehler und Anstrengung zu denn daraus kann ich lernen.” (Maria Montessori)