Die drei hier erwähnten Filme habe ich am Filmfestival in Locarno gesehen – was nun auch schon wieder fast zwei Wochen her ist. Aus dem riesigen Programm wählte ich fünf Filme, drei davon kommen hier zur Sprache – alle fünf liefen ausserhalb des Wettbewerbs.
FILM DER WOCHE
Mit Oakes Fegley, Millicent Simmonds, Julianne Moore, Tom Noonan, Michelle Williams, u.a.
Drehbuch: Brian Selznick nach seinem gleichnamigen Roman
Regie: Todd Haynes
Musik: Carter Burwell
Für Wonderstruck ist im deutschsprachigen Raum bislang noch kein Kino-Starttermin festgelegt.
Wonderstruck war der erste Film, den ich anlässlich meines Locarno-Besuches gesehen hatte. Danach hätte ich eigentlich nach Hause gehen können: Ich wusste, etwas Besseres kriege ich hier nicht mehr zu sehen. Und genauso war es auch!
Todd Haynes neuster Film gehört zu den raren Werken, wie es sie nur alle paar Jahre einmal gibt. Er ist ein Gesamtkunstwerk. Regie, Drehbuch, Kamera, Ausstattung, Musik – brilliant. Praktisch kein Teilbereich, der gegenüber den anderen abfällt; jeder Beitrag passt perfekt ins Gesamtbild. Die schauspielerische Leistung des Kinderdarstellers Oakes Fegley wirkt gegenüber dem Rest zwar etwas schwach, doch das spielt angesichts des Gestaltungsaktes, der dem Film zugrunde liegt, kaum eine Rolle.
Das Drehbuch stammt von Brian Selznick, dem Autor der Romanvorlage zu Martin Scorseses ebenso mirakulösen Film Hugo (2011). Auch Wonderstruck liegt ein Roman Selznicks zugrunde, und diesmal schrieb er das Drehbuch gleich selbst.
Der Film erzàhlt die Geschichten zweier Kinder. Ben (Fegley), dessen Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, lebt im Jahr 1977 bei der Familie seiner Tante. Die Geschichte der gehörlosen Rose (Simmonds) hingegen spielt 1927. Nun hüpft der Film permanent zwischen den Zeiten hin und her, zwischen Rose und Ben, zwischen Schwarzweissfilm und Farbfilm, zwischen Stummfilm und Tonfilm. „Hüpfen“ ist allerdings das falsche Wort – es ist zu hart. Die Übergänge sind oft wunderbar fliessend und geschehen manchmal fast unmerklich.
Beide Epochen werden mit bemerkenswerter Akribie und Genauigkeit lebendig gemacht, man reibt sich immer wieder die Augen ob der „Echtheit“ der Bilder.
Ben, der Nachts des öfteren von immer demselben Alptraum geplagt wird – er wird im Wald von einem Wolfrudel verfolgt – will gern wissen, wer sein Vater war. Dass ihm das niemand sagen will oder kann, wird für ihn zunehmend zur Belastung. Als er eines Tages in den Sachen seiner Mutter einen Hinweis auf den Vater findet, haut er ab und fährt per Greyhound nach New York. Kurz vorher wird er durch einen Blitzschlag taub.
Die etwa gleichaltrige Rose tut 1927 dasselbe, aus anderem Grund: Sie flüchtet vor ihrem überstrengen Vater und dem neuen Gehörlosen-Lehrer – ebenfalls in die grosse Stadt. Dort will sie die berühmte Stummfilmschauspielerin Lillian Mayhew (Moore) finden.
Von da an verdichtet sich Wonderstruck immer mehr. Die Wege der beiden Kinder kreuzen sich permanent – zu verschiedenen Zeiten, an denselben Orten. Ganz nebenbei wird so, anhand der unverrückbaren und unveränderlichen Schauplätze und Dinge, die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens thematisiert.
Die Geschichten von Ben und Rose kommen sich räumlich immer näher, bis sie im New Yorker im Museum of Natural History eine Art Endstation erreichen. Von dem Moment an werden sie, wie in einem Kaleidoskop umgedreht, die Zeitebene faltet sich auseinander und die Bewegung der beiden Schicksale setzt sich weiter fort, was schliesslich zu einer Art Verschränkung führt.
Das klingt schwer verständlich, ich weiss, doch zuvieles darf nicht verraten werden.
Die Erzählstruktur von Haynes‘ neustem Film ist höchst ungewöhnlich, vom Film-Ende her gesehen aber einleuchtend und bewunderungswürdig konsequent. Was da im letzten Drittel kommt, erwartet man nicht. Es ist mehr als eine Antwort auf die während der ersten zwei Drittel sporadisch auftauchende Frage, was „das“ eigentlich soll.
Wonderstruck ist, wie der Titel passend suggeriert, ein Film über die Wunder der Welt und des Lebens. Dabei lässt er eine Kino-Magie entstehen, welche dieses Wunder mittels unerhörten Bildern und Klängen greifbar und glaubhaft macht. Und das ist mehr, als was das Gros der Filme üblicherweise zu erreichen imstande ist.
Bleibt zu hoffen, dass dieses ungewöhnliche Werk hierzulande einen Verleih findet!
Die Regie: 10 / 10
Das Drehbuch: 10 / 10
Die Schauspieler: 9 / 10
Die Filmmusik: 10 / 10
Gesamtnote: 10 / 10
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Kurzkritiken
JULES ET JIM
(dt.: Jules und Jim)
Mit Oskar Werner, Jeanne Moreau, Henri Serre, Bassiak, u.a.
Drehbuch: François Truffaut und Jean Gruault nach dem Roman von Henri-Pierre Roché
Regie: François Truffaut
Musik: Georges Delerue
Truffauts dritter Spielfilm (nach Les 400 coups und Tirez sur le pianist), den ich nun auch endlich gesehen habe – in Locarno wurde er anlässlich des Todes von Jeanne Moreau kurzfristig ins Programm aufgenommen und leider in einer ziemlich miesen 35mm-Kopie der schweizerischen „Filmcoopi“ gezeigt.
Ein gleichzeitig faszinierender und enervierender Film! In der Rückschau gewinnt er zwar (er setzt sich wie ein Puzzle im Kopf zusammen), doch ich ertappte mich während der Vorführung mehrmals beim auf-die-Uhr-gucken. Richtiggehend nervig ist der Schnitt und die (Hand-)Kameraführung; das Bild wackelt und rüttelt, schwebt und kippt, die einzelnen Kameraeinstellungen dauern jeweils nur Sekunden oder gar Bruchteile davon – verhackstückt am Schneidetisch. Das war eben die Doktrin der „nouvelle vague“ – anders sein um jeden Preis. Truffaut entsagte ihr zum Glück später.
Auch inhaltlich irritiert Jules et Jim. Die Hauptfigur ist im Grunde Catherine, ein schwieriger, kaum begreifbarer Charakter. Ihre freigeistige Haltung könnte man als Vorwegnahme der freien Liebe schubladisieren, doch der Film will viel mehr als das. Jules et Jim ist in seiner ganzen thematischen, dramaturgischen und inszenatorischen Sperrigkeit ein Diskurs über die Natur der Liebe und deren gesellschaftliche Verwaltung, bezw. der Ausbruch aus dieser „Verwaltetheit“. Und als solcher ist er höchst anregend.
Aber dann wieder der Schluss… Schwer zu verdauen, rätselhaft.
Jules et Jim, ein Liebesreigen im Paris der Jahrhundertwende, erzählt von den zwei titelgebenden Freunden, deren Leben von der Liebe zur unkonventionellen Catherine durcheinandergewirbelt werden – bis die Heirat des einen und der erste weltkrieg der Unschuld ihrer Beziehung ein jähes Ende setzt.
Die Regie: 9 / 10
Das Drehbuch: 8 / 10
Die Schauspieler: 8 / 10
Die Filmmusik: 10 / 10
Gesamtnote: 9 / 10
THE BIG SICK
USA 2017
Mit Kumail Nanjiani, Zoe Kazan, Holly Hunter, Ray Romano, Anupam Kher, Adeeel Akhtar u.a.
Drehbuch: Emily V. Gordon und Kumail Nanjiani
Regie: Michael Showalter
Musik: Michael Andrews
Auf der Piazza Grande lief am Donnerstag Abend die Vorpremiere dieser US-Komödie. Da ich den hierzulande kaum bekannten Regisseur Michael Showalter wegen seines präzisen komödiantischen Timings sehr schätze, musste ich da einfach hin. Ich wude nicht enttäuscht: The Big Sick ist, wie erwartet, eine leicht schräge Komödie um einen pakistanischen Möchtegern-Entertainer (Nanjiani), der sich gegen den Willen seiner Familie in eine Amerikanerin (Kazan) verliebt.
Genau als man denkt „ah ja, bekannte Muster, alles klar“, schlägt der Film eine völlig andere Richtung ein: Die Geliebte erkrankt schwer und muss ins künstliche Koma versetzt werden. Nun bekommt es Kumail mit deren höchst seltsamen Eltern zu tun – als hätte er mit seinen eigenen Erzeugern nicht schon genug Kummer…
Kein Meisterwerk, aber The Big Sick ist auch ohne Tiefgang ein gut gemachter, angenehm frischer Off-Hollywood-Streifen mit einigen Glanzmomenten.
Einer davon ist Ray Romano, der in der Rolle des humorlosen College-Lehrers und „Vaters der Braut“ zum schreien komisch ist. Dicht gefolgt von Holly Hunter, welche seine bärbeissige Gattin gibt.
Die Regie: 8 / 10
Das Drehbuch: 8 / 10
Die Schauspieler: 9 / 10
Die Filmmusik: 8 / 10
Gesamtnote: 8 / 10
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Vorschau
Die folgenden drei Filme werden im nächsten Blog-Beitrag vorgestellt. Einer davon wird zum „Film der Woche“ gekürt…
The Night my Number Came Up (dt.: Sie waren 13; England 1955)
Butterfly on a Wheel (dt.: Spiel mit der Angst; UK, Canada, USA 2007)
Viceroy’s House (dt.: Der Stern von Indien; UK, Indien, Schweden 2017)
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