Wolkenkratzer

Von Blaufeder

Und manchmal verdeckten sie die Wolken nicht nur, sondern machten sie auch kaputt.

Gebannt saß Ally unter der großen Eiche im Garten ihrer Großeltern und beobachtete die Wolken. Heute war ein besonders stürmischer Tag und es war schwierig etwas in den Wolken zu erkennen. Zwischen ihren Lippen klemmte der klägliche Rest eines Bleistifts und auf ihren Knien lag das abgenutzte Notizbuch ihres Großvaters. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie es im Schuppen unter all dem Feuerholz gefunden hatte. Großmutters Gesicht nach zu urteilen, war es sein Geheimnis gewesen.

„Allegra! Komm jetzt rein!“

Die Stimme ihrer Mutter unterbrach ihre Gedanken und seufzend wälzte Ally sich unter dem Baum hervor.
Sie hasste ihren Namen – Ally mochte sie viel lieber.  Es klang weich und freundlich.
Allegra dagegen klang unangenehm hart.

Missmutig warf sie einen letzten Blick in die Wolken, steckte das Notizbuch in ihre Jackentasche und schloss den Bleistift-Rest in ihrer Faust ein. Die Schuhe ließ sie unter der Eiche stehen. So hätte sie wenigstens einen Grund noch einmal in den Garten zu müssen.

„Allegra! Wo bleibst du denn!?“
„Ich komme schon!“

Genervt fixierte sie das kleine Küchenfenster, aus dem eben noch ihre Mutter geschaut hatte. Deren Blick nach zu urteilen stand wieder einmal irgendetwas unglaublich wichtiges an – etwas, das viel wichtiger war als sie.

Als sie schließlich die kleine Küche des Hauses betrat, hatte ihre Mutter ihr schon ihre Jacke zugeworfen. Der Stimmung nach zu urteilen, hätte sie sie wahrscheinlich auch ohne aus dem Haus gezerrt..

„Wo sind deine Schuhe?!“
„Im Garten.“

Ihre Mutter warf ihr einen bösen Blick zu und ging mit zügigen Schritten hinaus. Es schien so, als würde ihr Plan nicht aufgehen. Ally gab sich damit zufrieden und zog die Jacke an.

„Kindchen.. mach es deiner Mutter doch nicht so schwer.“

Ally seufzte, als sie die warme, weiche Stimme ihrer Großmutter hörte. Die braunen Augen, die im Leben so viel gesehen hatten, durchbohrten sie auf eine strenge, aber liebevolle Weise.

„Ja, Großmutter..“

Die Stille war Ally unangenehm und sie begann den Bleistiftstummel in ihrer Handfläche zu bewegen. Es war nicht fair, dass alle ihre Mutter in Schutz nahmen. Dauernd ging es nur nach ihr und alle anderen mussten schauen wo sie blieben.

Ally konnte die Absätze ihrer Mutter auf dem Steinweg klackern hören und wenige Sekunden nach dem Geräusch, flogen ihre Turnschuhe einige Zentimeter an ihrem Ohr vorbei.

„Zieh an. Na los.“

Wortlos ließ sie sich auf dem Küchenboden nieder und ignorierte das Fingertrommeln ihrer Mutter. Jede Sekunde die sie nicht mit Meetings und Events verbringen konnte, war anscheinend verlorene Zeit.

„Ich gehe schon zum Auto. Beeil dich.“

Ally nickte schweigend und band sich den rechten Schuh zu. Sie wusste, dass ihr Schneckentempo ihre Mutter zur Weißglut treiben würde, aber die Konsequenzen waren ihr egal. Sie hatte kein Interesse daran das Haus ihrer Großeltern zu verlassen. Ally war gerne hier.

Als ihre Schuhe angezogen waren und ihr kein Grund mehr einfiel, um die Abreise zu verzögern, drehte sie sich um. Ihre Arme schlossen sich um die geblümte Schürze ihrer Großmutter und die Nähe spendete ihr Trost.

„Oma..?“
„Ja?“
„Ich komme ganz bald wieder.“

Ally spürte, wie sich die Hand von ihrem Kopf entfernte. Draußen ertönte die Hupe, doch selbst ihre Großmutter schien das störende Geräusch auszublenden.

„Bestimmt Ally. Ganz bestimmt.“

Die Worte munterten Ally nicht auf. Sie fühlte sich jetzt noch schlechter als zuvor. Sie hatte ihre Großmutter traurig gemacht, ihre Mutter verärgert und keine Änderung bewirken können.

„Na los. Deine Mutter wartet.“

Ally spürte, dass ihre Oma sie begleitete. Die große Eingangstür kam immer näher und mit jedem Schritt wünschte sie sich zurück unter die große Eiche.
Das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter stimmte nicht mehr.
Das hatte selbst Ally mitbekommen.

Beide versuchten es zu vertuschen und schön zu reden, aber manche Dinge konnte man nicht verstecken. Es war, als würde man versuchen Schwarz schönzufärben – das ging ja auch nicht.

„Mach’s gut Ally.“
„Bis bald Oma.“

Ally wusste das sie log, aber sie konnte nicht anders.
Würde sie sich nicht selbst belügen, würde sie weinen. Und wenn sie weinen würde, würde ihre Oma auch weinen müssen. Und das wollte sie nicht.

Ein letztes Mal drückte sie ihr Gesicht in die Blumen-Schürze, roch den leichten Zitronenduft, den sie so mochte und verschwand dann mit langsamen Schritten aus der Diele. Ally wusste, dass ihr die braunen Augen ihrer Großmutter folgten und sie wusste auch, dass das Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite nie wieder hierher zurückkommen würde.

Sie hatte gehört, was die beiden Frauen sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten.

Für Ally war das schlimm – sie wollte nicht weg.
Sie wollte hier bleiben – bei Oma, dem Haus, der großen Eiche und den Wolken.
In der Stadt konnte man wegen der Wolkenkratzer keine Wolken sehen.
Und manchmal verdeckten sie die Wolken nicht nur, sondern machten sie auch kaputt.

„Allegra! Jetzt beeil dich endlich!“

Die Stimme ihrer Mutter klang fast so hart, wie sich der Asphalt unter ihren Turnschuhen anfühlte. Ally konnte nicht bei ihrer Großmutter bleiben, aber zu ihrer Mutter wollte sie auch nicht. Großvater hätte sicher einen Weg gewusst und mehr denn je wünschte sie sich eine Lösung. Etwas, dass die Sache klären würde; eine Möglichkeit, die die beiden Frauen dazu bringen würde, sich zusammen zu reißen.

Sie hatte gerade die Mitte der Straße erreicht, als ihr Blick erneut in den Wolken hängen blieb. Wenn sie so darüber nachdachte, war ihre Großmutter eine Wolke – weich und sanft. Ihre Mutter dagegen ähnelte einem Wolkenkratzer – übermächtig, gefühllos und unerbittlich.

Für eine Sekunde sah Ally ihre Mutter in Gestalt eines Wolkenkratzers mitten in der Stadt stehen. Bei dieser Vorstellung entfuhr ihr ein belustigtes Lachen und mit einem genervten Prusten blendete sie ihre Mutter aus, die schon wieder hupte.

„Allegra!“

Sie merkte zu spät, dass die Stimme, die ihrer Großmutter und nicht ihrer Mutter gehörte, keineswegs wütend klang. Sie klang panisch. Und auch das Hupen klang nun anders – es gehörte nicht zu dem Wagen ihrer Mutter.