In Berlin wohnen und in der Automobilentwicklung tätig sein? Das geht. In Berlin gibt es mehr Unternehmen aus der Branche als man denkt. Das Meilenwerk mit seinen Oldtimern und Spezialisten. Große Autohäuser aller bekannten Marken. Und spezialisierte Ingenieursdienstleister. Der Automobilsektor, zu dem ich jetzt auch die Motorradindustrie zähle, beschäftigt in Berlin rd. 8.500 Menschen. Mehr als die Modeindustrie. Dazu kommen hunderte Festangestellte eines "großen norddeutschen Automobilherstellers", die jeden Morgen mit dem Zug von Berlin nach Wolfsburg pendeln. Und in Brandenburg kommen auch noch einige dazu. Wie das so ist, mit einem ICE zu pendeln, habe ich hier ja schon öfters beschrieben.
Kommt man am Bahnhof WOB an, verlassen die meisten ihn in Richtung Mittellandkanal und wandern zu Fuß zum Tor, wo der Shuttlebus hält. Ein Weg mit schönen Bildern, zu allen Jahreszeiten. So auch in diesen Tagen, wo eine dünne Decke aus Schnee und Eis über Wolfsburg liegt. Zur Linken setzt sich der ICE in Bewegung, mit dem man gerade angekommen ist. Auf der rechten Seite der Kanal. Meist liegen Frachtschiffe an und warten auf Entladung am Kraftwerk. Rechts vom Kraftwerk: das Anlegebecken. Weiter rechts die Autostadt mit dem Ritz-Carlton nebst Swimmingpool. Und eine neue Strandbar hat vorigen Sommer eröffnet. Leider ist der Weg über die Kanalbrücke zu weit, um bei Zugverspätungen mal eben rüber zu gehen.
Doch den meisten Raum nimmt das Stammwerk in seinem rostbraunen Klinker ein. Vierziger Jahre Architektur. Manchmal rangiert ein Güterzug über das Gelände. Fünf Minuten läuft man so lang, dann geht's in den Tunnel und unter den Kanal durch. An den Tunnelwänden hängen die bekannten schwarzweiß Fotografien von Heidersberger "Wolfsburg - Bilder einer jungen Stadt", mit denen Wolfsburg damals Gastarbeiter anwerben wollte. Am anderen Ende des Tunnels das Tor, der Shuttle, die Fahrt zum Büro.
Ich habe in dieser Woche allerdings ein Abwechslungsprogramm, fahre mit dem Bus zum sog. Mobile Life Campus, kurz MLC, auch als Sitz der Autouni bekannt. Steigt man an der Haltestelle "Brücke Sandkamp" aus, liegt sie auf der linken Seite in einiger Entfernung vor einem. Zwischen mir und dem MLC, das von weitem wie ein Raumschiff aussieht, liegen ein Parkplatz und ein weißes Feld. Ich gehe zu Fuß. Der Weg ist stets weiter als man denkt. Das Gebäude scheint bereits zum Greifen nah, aber der Weg zieht sich. Und um einen herum wird es immer ruhiger, fast still. Ist man angekommen und blickt zurück, sieht man den Verkehr der Nordhoffstraße, aber man hört ihn nicht. Das entrückt einen in dem Maße, wie ich es nachher brauchen werde: Abstand von den Dingen und von oben drauf schauen ist angesagt.
Betritt man das Gebäude, sieht es so aus, als ob es im wesentlichen leer wäre. Ich nehme die ausladende Treppe die vom Ausstellungsfoyer mit lang gezogenen Stufen in den ersten Stock führt. Irgendwann komme ich in dem Büro an, in dem ich verabredet bin. Vor dem Fenster weite weiße Felder. Man sieht dass Niedersachsen zwar keine Topologie hat, aber Textur. Gemälde von niedersächsischen Landschaften, genau so wie von havelländischen, haben immer die Form von parallelen Farb- oder Musterstreifen. So auch hier. Die Sonne kämpft sich durch die Schneewolken, man kann sie erkennen, doch sie wirkt eher wie ein Mond hinter dünnen Wolken. In ihrem Licht weit hinten ein ansteigender Hügel, im Vordergrund ein Stoppelfeld. Zwischen beiden ein Weg mit jungen Bäumen. Ein Spaziergänger mit seinem Hund genießt die Sonne, den Schnee, die Stille. Wir schauen erfreut zu. Und kurz bevor wir auch in der Idylle versinken, fahren wir die Rechner hoch und beginnen zu arbeiten.