Man muss es den Philosophen in der Ikea-Marketing-Abteilung lassen: Mit ihrem Werbespruch "Wohnst du noch oder lebst du schon?" haben sie eine kategorische Unterscheidung geschaffen, die nicht nur für den Einkauf von Pressspanmöbeln im weltweit größten Einrichtungshaus von Relevanz ist. Nicht nur kann man damit sehr gut die Adoleszenzphase analysieren; der Spruch hilft uns, zumindest in der leicht abgewandelten Form aus dem Titel, auch beim Verständnis der Kommunal- und Regionalwahlen. Was meine ich damit?
Zur Illustration eine kurze Geschichte. Jüngst sprach ich mit einem Vater, der sich über das aus seiner Sicht mangelnde Engagement des zwar volljährigen, aber adoleszenten 19jährigen Sohnemanns ärgerte, der wenig Motivation zeigte, das Haus in Ordnung zu halten oder bei der Gartenarbeit und ähnlichem auszuhelfen. "Als ob er nicht auch da wohnen würde!" echauffierte sich der Vater in einem Satz, der in der Republik täglich sicherlich im höheren sechsstelligen Bereich ärgerlich hervorgestoßen wird. Ich entgegnete ihm, dass meine Eltern in dem Alter das exakt gleiche Problem mit mir hatten, und dass - entgegen seines Protests - er ähnliche Anwürfe von seinen Eltern wohl auch gehört hatte. Das Problem, sagte ich, sei, dass er in seinem Haus lebe, während der Sohn dort nur wohne.
Der zentrale Unterschied ist der, dass wer an einem Ort lebt diesen anders wahrnimmt als jemand, der dort nur wohnt. Als ich etwa für die Dauer meines Studiums nach Tübingen gezogen bin, habe ich da gewohnt, aber ich habe dort nicht gelebt. Mein eigentlicher Anker blieb weiterhin das Remstal, in das ich seither auch zurückgekehrt bin. Aber selbst nach dieser Rückkehr war es noch mehr wohnen als leben, denn wer wusste schon im Referendariat, wo man bleiben würde? Und selbst nach der Annahme des Jobs und der größeren Mietwohnung blieb es weiterhin noch ein größerer Wohnen- als Leben-Anteil. Erst durch die mehr oder minder bewusste Entscheidung, dauerhaft in dem Ort zu leben an dem ich gerade bin, wandelte sich das.
Für solche Menschen, die nur temporäre Jobs haben und öfter sowohl ihre Position in Unternehmen und Organisationen als auch den Wohnort wechseln, kann dieser Umschwung unter Umständen sehr lange ausbleiben. Das verbreitete Gefühl von Entwurzelung, das in der Diskussion zur Globalisierung so oft bemüht wird, kommt auch daher. Die stetig wachsenden Probleme von Vereinen, freiwilligen Feuerwehren, Jugendorganisationen, Kirchen und so weiter, Nachwuchs zu finden und der Überalterung entgegenzuwirken, haben auch in diesem Phänomen ihren Ursprung. Denn nur, wer an einem Ort lebt, engagiert sich auch in und an diesem. Alle anderen wohnen da nur.
Und damit schlagen wir den Bogen vom gesellschaftlichen in den politischen Bereich. Am 26. Mai sind ja neben den Europawahlen zumindest in Baden-Württemberg auch die Kommunal- und Regionalwahlen. Bürger sind aufgerufen, ihre bis zu 32 Stimmen im Gemeinderat, 8 Stimmen im Ortschaftsrat, 8 Stimmen im Kreisrat und ihre eine Stimme in der Regionalversammlung abzugeben, üblicherweise ohne auch nur oberflächliche Kenntnis sowohl der entsprechenden Gremien als auch der Kandidaten.
Auf meinen Stimmzetteln zur Gemeinderatswahl tummelten sich rund 100 Kandidaten. Zusammen mit denen für die anderen genannten Gremien kommen wir auf eine Auswahl von locker 130 Leuten. Dazu kommen noch die gerade einmal 40 (!) unterschiedlichen Parteien für die Europawahl, aber die lassen wir an der Stelle beiseite. Mir geht es nur um die Kommunal- und Regionalwahl. Mein ganzes bisheriges Leben waren mir diese Wahlen ziemlich egal, ich habe nach Bauchgefühl und Parteiaffinität abgestimmt. Nun, da mein Standort in meiner Kommune sich nicht zuletzt durch Immobilienerwerb deutlich von "wohnen" nach "leben" verschoben hat, interessiere ich mich deutlich mehr für Zufahrtsstraßen zum Neubaugebiet als vorher, denn selbiges Neubaugebiet liegt keine 50m vom Haus entfernt.
Und da fangen die Probleme an. Denn in irgendeiner Art und Weise herauszufinden, was die Kandidaten und Parteien überhaupt erreichen wollen, gestaltet sich als deutlich schwieriger, als es sein sollte:
- Zum Ortschaftsrat habe ich einen Flyer der örtlichen SPD. Alle anderen Parteien und Kandidaten haben weder Plakate noch Flyer noch sonst was. Der SPD-Flyer informiert mich darüber, dass ich einer tollen Stadt wohne, die Fachwerkhäuser hat ("besonderer Charakter") und dass dieser erhalten werden soll. Damit bin ich effektiv so schlau wie vorher, außer dass ich nun weiß, dass die SPD Bittenfeld Fachwerkhäuser schätzt.
- Zum Gemeinderat habe ich Flyer von SPD und CDU erhalten. In beiden stehen praktisch die gleichen Punkte. Lebenswert wollen sie die Gemeinde halten, gute Verkehrswege mögen auch alle und Bildung ist wichtig. Ich habe ein Interesse am Bestehen und Ausbau des Ganztagsangebots sowohl der Kitas als auch des Horts. Welche der beiden Parteien wähle ich dafür? Keine Ahnung. Welche Partei wäre eher dabei, den Verkehr durch bessere ÖPVN-Anbindung und andere Maßnahmen zu entzerren? Beats me. Vielleicht die Grünen? Deren Spitzenkandidat, so lese ich aus dem Wahlzettel, ist wohl Medienwissenschaftler. Das hilft mir nur bedingt.
- Kreistag und Regionalversammlung muss ich auf Wikipedia nachlesen um auch nur festzustellen, was die tun. Was die Parteien in diesen Gremien schwerpunktmäßig machen, bleibt völlig unklar.
Und ich bin eine politisch überdurchschnittlich interessierte Position mit echten Interessen am Ort, die massive Probleme hat, auch nur rudimentäre Positionsbestimmungen bei diesen Fragen zu finden. Wie viel schlimmer muss es da vielen anderen ergehen?
Abschließend will ich auf die letzte Absurdität bei dem ganzen Drama eingehen. Ich bin ja Politiklehrer, das heißt, dass die Wahlen im Unterricht gerade natürlich Thema sind. Seit 2014 können in Baden-Württemberg auch 16jährige an den Kommunalwahlen teilnehmen, nicht aber an den Regionalwahlen oder an denen zum europäischen Parlament (oder Landtag oder Bundestag). Und ich verstehe ja die Idee, Jugendliche zu mehr demokratischer Beteiligung zu bringen.
Aber die oben aufgelisteten Gründe erklären ein Phänomen, das ich im Unterricht ebenso wie in privaten Gesprächen Jahr ums Jahr aufs Neue erlebe und das ja auch medial bei jeder Wahl diskutiert wird: Das Interesse nimmt rapide ab, je regionaler die Wahlen werden - gerade bei Jugendlichen. Während die Bundestagswahlen erhitzt diskutiert werden, sind die Landtagswahlen bereits deutlich weniger präsent. Die Europawahl interessiert deutlich mehr als die Gemeinderatswahl, und praktisch keiner redet von Kreistag und Regionalversammlung.
Und genau diese Wahlen, zu denen die meisten Leute ein bestenfalls distanziertes Verhältnis haben - aus völlig nachvollziehbaren Gründen! - und die mit Abstand am kompliziertesten sind (hohe zweistellige Zahl völlig unbekannter Kandidaten, kumulieren, panaschieren, 32 Stimmen!), genau das sind die, die für 16jährige zugelassen werden. Diese 16jährigen interessieren sich noch weniger für Kommunalpolitik als die meisten anderen, aber sehr für Europa- und Bundespolitik. Soll es also um Demokratieförderung gehen, ist das völlig absurd.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Baden-Württemberg beispielsweise hat sehr gute Erfahrungen mit den Jugendgemeinderäten gemacht. Diese sind kommunale Gremien extra für Jugendliche, die ein Mitspracherecht bei Entscheidungen haben, die sie betreffen (klassisch etwa die Einrichtung einer Skatehalfpipe und Ähnliches). Aber die "reguläre" Kommunalpolitik interessiert sie nicht. Sie wohnen nur, also wählen sie auch nicht. Das erklärt auch die über Jahrzehnte konstant niedrige Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen. Und das ist eigentlich auch kein Hexenwerk.
Zur Illustration eine kurze Geschichte. Jüngst sprach ich mit einem Vater, der sich über das aus seiner Sicht mangelnde Engagement des zwar volljährigen, aber adoleszenten 19jährigen Sohnemanns ärgerte, der wenig Motivation zeigte, das Haus in Ordnung zu halten oder bei der Gartenarbeit und ähnlichem auszuhelfen. "Als ob er nicht auch da wohnen würde!" echauffierte sich der Vater in einem Satz, der in der Republik täglich sicherlich im höheren sechsstelligen Bereich ärgerlich hervorgestoßen wird. Ich entgegnete ihm, dass meine Eltern in dem Alter das exakt gleiche Problem mit mir hatten, und dass - entgegen seines Protests - er ähnliche Anwürfe von seinen Eltern wohl auch gehört hatte. Das Problem, sagte ich, sei, dass er in seinem Haus lebe, während der Sohn dort nur wohne.
Der zentrale Unterschied ist der, dass wer an einem Ort lebt diesen anders wahrnimmt als jemand, der dort nur wohnt. Als ich etwa für die Dauer meines Studiums nach Tübingen gezogen bin, habe ich da gewohnt, aber ich habe dort nicht gelebt. Mein eigentlicher Anker blieb weiterhin das Remstal, in das ich seither auch zurückgekehrt bin. Aber selbst nach dieser Rückkehr war es noch mehr wohnen als leben, denn wer wusste schon im Referendariat, wo man bleiben würde? Und selbst nach der Annahme des Jobs und der größeren Mietwohnung blieb es weiterhin noch ein größerer Wohnen- als Leben-Anteil. Erst durch die mehr oder minder bewusste Entscheidung, dauerhaft in dem Ort zu leben an dem ich gerade bin, wandelte sich das.
Für solche Menschen, die nur temporäre Jobs haben und öfter sowohl ihre Position in Unternehmen und Organisationen als auch den Wohnort wechseln, kann dieser Umschwung unter Umständen sehr lange ausbleiben. Das verbreitete Gefühl von Entwurzelung, das in der Diskussion zur Globalisierung so oft bemüht wird, kommt auch daher. Die stetig wachsenden Probleme von Vereinen, freiwilligen Feuerwehren, Jugendorganisationen, Kirchen und so weiter, Nachwuchs zu finden und der Überalterung entgegenzuwirken, haben auch in diesem Phänomen ihren Ursprung. Denn nur, wer an einem Ort lebt, engagiert sich auch in und an diesem. Alle anderen wohnen da nur.
Und damit schlagen wir den Bogen vom gesellschaftlichen in den politischen Bereich. Am 26. Mai sind ja neben den Europawahlen zumindest in Baden-Württemberg auch die Kommunal- und Regionalwahlen. Bürger sind aufgerufen, ihre bis zu 32 Stimmen im Gemeinderat, 8 Stimmen im Ortschaftsrat, 8 Stimmen im Kreisrat und ihre eine Stimme in der Regionalversammlung abzugeben, üblicherweise ohne auch nur oberflächliche Kenntnis sowohl der entsprechenden Gremien als auch der Kandidaten.
Auf meinen Stimmzetteln zur Gemeinderatswahl tummelten sich rund 100 Kandidaten. Zusammen mit denen für die anderen genannten Gremien kommen wir auf eine Auswahl von locker 130 Leuten. Dazu kommen noch die gerade einmal 40 (!) unterschiedlichen Parteien für die Europawahl, aber die lassen wir an der Stelle beiseite. Mir geht es nur um die Kommunal- und Regionalwahl. Mein ganzes bisheriges Leben waren mir diese Wahlen ziemlich egal, ich habe nach Bauchgefühl und Parteiaffinität abgestimmt. Nun, da mein Standort in meiner Kommune sich nicht zuletzt durch Immobilienerwerb deutlich von "wohnen" nach "leben" verschoben hat, interessiere ich mich deutlich mehr für Zufahrtsstraßen zum Neubaugebiet als vorher, denn selbiges Neubaugebiet liegt keine 50m vom Haus entfernt.
Und da fangen die Probleme an. Denn in irgendeiner Art und Weise herauszufinden, was die Kandidaten und Parteien überhaupt erreichen wollen, gestaltet sich als deutlich schwieriger, als es sein sollte:
- Zum Ortschaftsrat habe ich einen Flyer der örtlichen SPD. Alle anderen Parteien und Kandidaten haben weder Plakate noch Flyer noch sonst was. Der SPD-Flyer informiert mich darüber, dass ich einer tollen Stadt wohne, die Fachwerkhäuser hat ("besonderer Charakter") und dass dieser erhalten werden soll. Damit bin ich effektiv so schlau wie vorher, außer dass ich nun weiß, dass die SPD Bittenfeld Fachwerkhäuser schätzt.
- Zum Gemeinderat habe ich Flyer von SPD und CDU erhalten. In beiden stehen praktisch die gleichen Punkte. Lebenswert wollen sie die Gemeinde halten, gute Verkehrswege mögen auch alle und Bildung ist wichtig. Ich habe ein Interesse am Bestehen und Ausbau des Ganztagsangebots sowohl der Kitas als auch des Horts. Welche der beiden Parteien wähle ich dafür? Keine Ahnung. Welche Partei wäre eher dabei, den Verkehr durch bessere ÖPVN-Anbindung und andere Maßnahmen zu entzerren? Beats me. Vielleicht die Grünen? Deren Spitzenkandidat, so lese ich aus dem Wahlzettel, ist wohl Medienwissenschaftler. Das hilft mir nur bedingt.
- Kreistag und Regionalversammlung muss ich auf Wikipedia nachlesen um auch nur festzustellen, was die tun. Was die Parteien in diesen Gremien schwerpunktmäßig machen, bleibt völlig unklar.
Und ich bin eine politisch überdurchschnittlich interessierte Position mit echten Interessen am Ort, die massive Probleme hat, auch nur rudimentäre Positionsbestimmungen bei diesen Fragen zu finden. Wie viel schlimmer muss es da vielen anderen ergehen?
Abschließend will ich auf die letzte Absurdität bei dem ganzen Drama eingehen. Ich bin ja Politiklehrer, das heißt, dass die Wahlen im Unterricht gerade natürlich Thema sind. Seit 2014 können in Baden-Württemberg auch 16jährige an den Kommunalwahlen teilnehmen, nicht aber an den Regionalwahlen oder an denen zum europäischen Parlament (oder Landtag oder Bundestag). Und ich verstehe ja die Idee, Jugendliche zu mehr demokratischer Beteiligung zu bringen.
Aber die oben aufgelisteten Gründe erklären ein Phänomen, das ich im Unterricht ebenso wie in privaten Gesprächen Jahr ums Jahr aufs Neue erlebe und das ja auch medial bei jeder Wahl diskutiert wird: Das Interesse nimmt rapide ab, je regionaler die Wahlen werden - gerade bei Jugendlichen. Während die Bundestagswahlen erhitzt diskutiert werden, sind die Landtagswahlen bereits deutlich weniger präsent. Die Europawahl interessiert deutlich mehr als die Gemeinderatswahl, und praktisch keiner redet von Kreistag und Regionalversammlung.
Und genau diese Wahlen, zu denen die meisten Leute ein bestenfalls distanziertes Verhältnis haben - aus völlig nachvollziehbaren Gründen! - und die mit Abstand am kompliziertesten sind (hohe zweistellige Zahl völlig unbekannter Kandidaten, kumulieren, panaschieren, 32 Stimmen!), genau das sind die, die für 16jährige zugelassen werden. Diese 16jährigen interessieren sich noch weniger für Kommunalpolitik als die meisten anderen, aber sehr für Europa- und Bundespolitik. Soll es also um Demokratieförderung gehen, ist das völlig absurd.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Baden-Württemberg beispielsweise hat sehr gute Erfahrungen mit den Jugendgemeinderäten gemacht. Diese sind kommunale Gremien extra für Jugendliche, die ein Mitspracherecht bei Entscheidungen haben, die sie betreffen (klassisch etwa die Einrichtung einer Skatehalfpipe und Ähnliches). Aber die "reguläre" Kommunalpolitik interessiert sie nicht. Sie wohnen nur, also wählen sie auch nicht. Das erklärt auch die über Jahrzehnte konstant niedrige Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen. Und das ist eigentlich auch kein Hexenwerk.