Wochenend-Lemming

Von Lareine

Manchmal gibt es ja Diskrepanzen zwischen der Vorstellung einer Sache und der Realität.

Das Thema Wochenende ist so eine Sache:

Donnerstagmorgen

Ich nenne diesen Tag gern “den kleinen Freitag”. Ich tue das, obwohl ich längst klüger sein müsste. Obwohl mir längst bewusst sein müsste, dass es zwischen meiner Sehnsucht nach Ausgleich, Ruhe, Entspannung, Entertainment und dem, was zwischen Freitag – und Sonntagabend wirklich stattfindet, eine Schlucht gibt.

Ich ignoriere meine Erfahrungen und freue mich auf das Wochenende. Yeah, schon Donnerstag! Ich mache Pläne: Am Freitagabend schaue ich gemütlich einen Film mit Mr. Essential. Dazu ein Gläschen Wein, ein paar Knabbernüsse … das wird toll. Und entspannend – das hab ich echt nötig. Toll, ich freu mich.

Träumt von einem schönen Wochenende: Ms Essential

Freitag:

Ach, schon der Morgen verwöhnt und entspannt mich. Betont summend starte ich in den Tag, nachdem ich mich endlich erschöpft aus dem Bett gequält habe. Ich halte mir die schönen Aussichten vor die Augen: Am Samstag haben wir ja dieses Mal nur einen einzigen Termin – Mr. Essential bringt zwei der vier Kinder in eine Eissporthalle, weil sie da mit ihrem Reitverein das Amüsement suchen. Aber was soll’s – das ist sicher schnell erledigt.

Und danach entspannen wir während Nummer 4s Mittagsschläfchen. Abends noch kurz einen kleinen Einkauf. Dann, noch später am Abend, haben wir dann Zeit füreinander. Großartig – darauf freue ich mich auch schon. Aber nun erst einmal durch den Alltag schwimmen und rudern. Ich werde heute vor dem Film noch genüsslich duschen und dann in meinen weichen Bademantel gekuschelt auf dem Sofa entspannen. Neben mir Mr. Essential. Ein Fest!

Ein bisschen Entspannung in Aussicht – das ist Gold wert …

Freitagabend:

Wir sitzen nicht ganz nebeneinander auf dem Sofa. Die Kinder haben uns abgerungen, noch ein bisschen etwas von ihrer Lieblingsserie mit uns gucken zu dürfen. Vom langen Herumliegen bin ich müde. Okay, ich bin eigentlich vom Alltag müde und das Liegen war einfach kontraproduktiv. Gerade gehen die drei nach oben und wir bringen Nummer 4 ins Bettchen. Plumps, wir sitzen wieder.

Er: “Welchen Film wollen wir uns ansehen?”

Ich: “Keine Ahnung. Guck mal auf unsere Watchlist.”

Er sucht etwas aus und fragt dann: “Soll ich den Wein aufmachen?”

Ich nickte und erinnere mich an meine Freude auf diesen Wochenendabend. Ich nippe daher lächelnd zwei Schlücke und spüre, wie meine Augen jucken. Wir sehen uns an.

“Sag mal, hocken wir gerade im Freitagsloch?”

Ich öffne meine Augen. Es ist 3:17 Uhr. Neben mir liegt Mr. Essential wie ein übermüdeter Gast der Deutschen Bundesbahn. Ich liege verdreht auf dem Sofa und habe Rückenschmerzen. Der Beamer teilt uns mit, dass wir ihn gefälligst herunterfahren sollen. Das tut er mittels moralischen Drucks (“… time to do your part in saving the planet!”). Wir schütteln uns und reiben die Augen, um dann der Forderung unserer Unterhaltungselektronik zu gehorchen.

Sehr entspannt um 3:17 Uhr

Als hätte man in einem Fass geschlafen …

Wir putzen unsere Zähne und schlurfen ins Schlafzimmer. Geduscht habe ich heute Abend nicht und mich auch nicht in den kuscheligen Bademantel gehüllt. Stattdessen haben die Jeansnähte vom Liegen tiefe Abdrücke in meiner Hüfte hinterlassen.

Wir schlafen ein.

Samstagmorgen

Ich wache auf und bemerkte, dass ich mich sofort gestresst fühle. Aber wieso denn? Es ist doch Wochenende!

Haben mir nicht die Frau an der Penny-Kasse, die Nachbarin und der Paketmann ein schönes Wochenende gewünscht? Wochenenden sind schön, verdammt! Also ziehe ich die Decke noch mal hoch. Genau da meldet sich Nummer 4 im Babyphone. Ich grunze.

“Lass uns für nächstes oder übernächstes Wochenende mal den Babysitter engagieren, ja?”

Von Mister Essential kommt ein zustimmender Laut. Er kann besser aus dem Bett springen als ich und tut es. Ich bleibe unter einem Hagel Gewissensbisse noch liegen und lese einen Artikel meines abonnierten E-Papers auf dem Tablet.

Als ich aufstehe hat mein formidabler Mann Frühstück gemacht. Das macht er immer und ich weiß es immer zu schätzen. Er macht das, weil er unter der Woche zu exakt null Prozent am Haushalt teilnehmen kann. Wir rufen die Kinder. Die kommen nicht. Nummer 4 wirft polternd seinen Becher aus dem Hochstuhl. das macht er gerne. Ich grunze.

Kaffee trinke ich keinen mehr, weil ich seit der Schilddrüsengeschichte aus gesundheitlichen Gründen (unter Anderem) darauf verzichte. Und ich vermisse das Zeug gerade ganz enorm. Eine so gesunde Umstellung des Lebensstils war sicher ein wichtiger Part der schnellen Genesung. Aber sie passt kaum in mein Leben. Ich brauche Kaffee mit’m Keks einfach. Und nun ist es ersatzlos gestrichen. Ich stehle mir einen Schluck für den Geschmack aus der Tasse des Mannes.

Kaffeepiratin”, sagte er liebevoll lächelnd. Und ich argwöhne, ob dies der beste Moment des Tages bleiben wird.

“Kaffeepiratin!”

Wenig später hat er sich bei Google Maps angesehen, wohin der elterliche Spaßexpress denn zu fahren hat:

“Das sind ja 50 Kilometer!” kommt es entgeistert von ihm, “gibt es nicht in der Nachbarstadt auch ‘ne Eishallle? Wieso gehen die nicht dahin?”

Ich grunze.

Bald ist er unterwegs. Und er wird insgesamt zweieinhalb Stunden brauchen. Als er wiederkommt ist es Mittag. Ich habe den Vormittagsschlaf Nummer 4s genutzt, um zu bügeln und aufzuräumen.

Ich hab Hunger und will mir schnell etwas machen, als sich Nummer 4 im Babyphone meldet. Ich könnte Nummer 2 aus ihrem Zimmer herunterrufen, damit sie sich kurz um ihn kümmert. Aber sie spielt gerade so schön alleine irgendwas. Ich muss jetzt auch nicht sofort was essen. Mister Essential kocht am Wochenende immer, also warte ich wie verabredet auf ihn. Er schiebt das Brathähnchen in die Röhre und kocht Gemüse.

Samstagnachmittag

Wir haben beschlossen, schnell einkaufen zu fahren. Nummer 2 und Nummer 4 kommen mit. Nummer 2 sieht tausend Dinge, die sie toll findet, wir können uns kaum konzentrieren, werfen alles in den Wagen. Nummer 4 will unbedingt eine Schachtel Waschpulver und bekommt einen Anfall, weil er sie nicht haben darf.

Endlich Wochenende. Einkaufen mit Kindern:
“Guckmalguckmalguckmal, Dad!”

Wir fahren nach Hause. Mr. Essential macht sich einen Kaffee. Ehe ich neidisch werden kann fragt er: “Wo ist denn die Milch?”

Wir haben keine gekauft. Die haben wir vergessen. Dann muss eben (mal wieder) nachher einer von uns los. Verfluchte Einkaufsdemenz.

Samstagabend

Ich habe Milch geholt und einen Kaffee für Mister Essential gemacht. Wir setzen uns hin.

“Ach, in zwei Stunden, wenn alle im Bett sind, dann kommt der schöne Teil des Tages,” erinnert Mr. Essential und ich lächle.

“Ja, das wird schön. Ich verteile schon mal die Teelichter in die Gläser.”

Raunen sich vorfreudig Gesäusel ins Ohr: Mr. und Ms. Essential

Wir atmen durch, es klingelt an der Tür. Nummer 1 und Nummer 3 kommen zurück. Sie installieren sich im Wohnzimmer und erzählen in atemloser Art von ihren Erlebnissen. Wir hören irgendwie zu und freuen uns mit ihnen, soweit unsere Energie reicht.

Später sind die Kinder nach oben gegangen. Nummer 4 schläft in der ersten Etage. Nummer 3 übernachtet am Wochenende bei Nummer 1 im zweiten Stock und Nummer 2 hängt noch ein bisschen mit den beiden herum. Sie spielen und hören dazu ein Hörspiel. Ruhe kehrt ein. Mr. und Ms. Essential sehen sich an.

Die Blicke gleiten zur Weinflasche, die Mundwinkel heben sich.

Ein Rumms von weiter oben. Das Babyphone leuchtet augenblicklich auf. Wir springen auf und sehen nach. Nummer 4 ist wach und weint. Die Mädels kommen von oben herunter und gucken beschämt.

“Äh, ja also … Nummer 3 hat sich an Nummer 1s Bein gehangen und dann sind die umgefallen und …” erklärt Nummer 2.

Mr. Essential: “Na klasse. Okay Mädels. Wie heißt unsere Regel?”

Im Chor: “Wer das Baby weckt, der muss es beruhigen.”

“Ups, wir haben ihn aufgeweckt …”

Auch wenn Nummer 4 kein Baby mehr ist, gilt die Regel. Wir gehen nach unten, sie spielen oben mit dem nun hellwachen Nummer 4chen. Eine Stunde hält er durch, dann geht er wieder ins Bett. Es ist jetzt 22 Uhr.

Wir haben mit beinahe infantilem Trotz die Flasche geköpft und klammern uns an die Gläserstiele. Immerhin haben wir uns nett unterhalten, während es über uns in der Etage beim Spielen polterte. Und während wir immer mal wieder auf die Uhr sahen. Ewig werden wir nicht wach sein… tick-tack …

Es ist also kurz nach Zehn, wir sehen uns an.

“Na, immer noch in Stimmung für einen romantischen Abend?”

“Äh ja, klar, na sicher. Allzu viele Gelegenheiten hat man ja nicht und morgen ist schon wieder Sonntag…”

Klingt irgendwie hölzern, wie ich das so sage.

“Okay, wir schauen noch eine Folge Better Call Saul und dann sind wir entspannt genug für alles weitere.”

“Ja, auf jeden Fall! Eine gute Idee. Erst mal wieder entspannen.”

Es ist 3:47 als ich meine Augen öffne. Mein Rücken tut weh. Der Beamer übt moralischen Druck auf mich aus …

Sehr entspannt um 3:47 Uhr

Sonntagmorgen

Ich wache auf und spüre mein Herz gestresst bis in den Hals pochen.

Schnell aus dem Bett, ehe ich mich da hinein steigere. Ich entschließe mich, unter die Dusche zu hüpfen. Das tut gut und weckt mich auf. Nach dem Umzug ins Schlafzimmer waren wir noch über eine Stunde hellwach und haben geredet. Das war sogar schön. Aber jetzt bin ich müde und morgen ist Montag – da muss ich wieder fit sein.

Dann versuche ich eben, mich auf einen ruhigen Sonntag zu freuen. Früher hab ich Sonntage nicht leiden können. Aber inzwischen suche ich mir immer eine nette Sache aus, die ich machen möchte. Heute werde ich den Berg aus fast 500 Fotos minimieren, die ich in die diversen Fotoalben einklebe. Scrapbooking – mach ich gern.

Von der Dusche geht es an den Esstisch zum Frühstück. Ich bin wieder eine Kaffeepiratin.

Die Kinder trudeln sogar gleichzeitig ein. Draußen regnet es.

“Was machen wir denn heute?” fragen die Kinder.

Sie sehen motiviert aber müde aus, diese Kinder.

Wir sehen uns ratlos an, die Kinder schlagen vor, zuerst ein klitzekleines Bisschen zusammen Wii zu spielen.

Die müden Eltern stimmen zu und spielen derweil mit Nummer 4.

“Was machen wir heute? Was Tolles? Was Schönes?”

Sonntagmittag

Das Essen hat geschmeckt, bloß abräumen will niemand. Die Kinder sind nölig – sie haben die berühmten 20 Minuten zu lange mit Elektronik gespielt und die Laune ist Bräsigkeit gewichen. Nummer 1 keift Nummer 3 an, diese wird zum Hulk. Nummer 2 will schlichten und bekommt einen Ellenbogen an den Kopf. Hysterisches Schreien. Vorwürfe. Krach. Nummer 4 stimmt mit ein.

Also Kinder wieder auf den Teppich bringen und Spielvorschläge machen. Sie verziehen sich brummig in ihre Zimmer und wir bringen Nummer 4 ins Bett.

Dann setzen wir uns hin und schnappen unsere Tablets um abzuschalten. Ich mag kein Phubbing und Mr. Essential auch nicht, aber die elektronische Coexistenz fühlt sich gerade gut an. Irgendwann stehe ich auf gehe nach oben, um in meinem Gäste- und Arbeitszimmer die Fotoberge zu dezimieren. Dabei mache ich mir ein Hörbuch an und überlege kurz, ob es nicht netter wäre, die Zeit mit Mr. Essential zu verbringen. Dieser Gedanke nagt an mir während ich klebe und sortiere.

Sonntagnachmittag

Würde es nicht regnen, wären wir in den Park gefahren. Aber es pladdert und wir hocken drinnen. Die Kinder wollen ein Gesellschaftsspiel und holen es auf den Esstisch. Ich zähle im Geiste mit und passend zur “21” gibt es Streit. Nummer 3 hat angeblich die Regeln nicht beachtet und kontert mit: “Weil Regeln auch kacke sind und für Trottel! Ich hasse die einfach!” Die Stimme kippt und es wird geweint. Ich tröste, erkläre und vermittle.

Sonntagabend

“Komisch, ich fühle mich null erholt. Es war nur schön, Zeit mit dir zu verbringen,” sage ich zu Mr. Essential und er lächelt leicht angestrengt.

“Ja, ne? Früher war mehr Lametta.”

“Ja, früher hatten wir massenhaft selbstbestimmte Freizeit.”

“Da haben wir viel zu oft zuhause gehangen.”

“Jepp.”

“Das bereue ich.”

“Ich auch. Aber nun isset zu spät. Jetzt müssen wir sehen, was wir aus dem Rest von Freizeit und Motivation machen.”

Die Kinder sind im Bett. Wir schauen uns den Film an, den wir am Freitag verpennt haben. Immerhin sind wir also doch etwas wacher und erholter, als wir es wahrnehmen.

Mit einem schwer zu beschreibenden Gefühl gehen wir später ins Bett.

Der Montag kommt und geht. Der Dienstag auch, ebenso der Mittwoch.

Donnerstagmorgen

“Yeah! Es ist Donnerstag, schon der Kleine Freitag! Heute starte ich geistig schon in’s Wochenende!”

Träumt von einem schönen Wochenende: Ms Essential

Ja, ich bin ein Wochenend-Lemming. Meisterin der Verdrängung und Selbstmotivation. :D