Wo sind die johlenden Kinder?

Von Lukas Röthlisberger @Adekagabwa

Wenn die tropische Hitze sich gegen Abend etwas gelegt hatte, fragte mich mein Vater manchmal ob ich noch einen kleinen Spaziergang machen wolle. Ich war damals vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Oh, habe ich mich da immer gefreut.

Wir gingen zusammen auf der staubigen Strasse und ich erzählte ihm meine Abenteuer. Ich erinnere mich an das Ölfass an der Straßenecke, an den fauligen Geruch beim Querweg und an die lange Reihe von Holzmasten mit Kabeln dran.

Aber vor allem erinnere ich mich an das große Halali: Kaum waren wir hundert Meter von unserem Haus entfernt, war schon eine Schar johlender Kinder hinter uns her. Ihr Lärm lockte im nu noch mehr Kinder an, die dann von allen Seiten daher gerannt kamen, und uns auch folgten. Ich mochte das natürlich nicht, aber das half nicht viel. Wenn sie allerdings zu dicht an uns herankamen, drehte sich mein Vater plötzlich um, stampfte mit dem Fuß und machte “HUH” und alle stieben wie ein Fischschwarm auseinander. In solchen Momenten war ich unglaublich stolz auf meinen Vater. Aber genützt hat auch das nicht viel.

Für die vielen braunen Kinder dort auf der Insel Borneo war natürlich der blasse Mann mit dem blassen Knirps ein aufregendes Ereignis. Überall auf der Welt folgen die Kinder den neuen Dingen. Selbst der Rattenfänger von Hameln in der alten Sage nutzte das aus. Manchmal schreien und lachen sie, manchmal ahmen sie das Fremde nach.

Heute sieht man bei uns nirgends mehr solchen Schwärme von Kindern. Wo sind die Kinder? Was ahmen sie wohl heute nach – wo und wie? Die Kindersendung am Fernseher? Und wem folgen sie? Der Werbung?

Für die Erwachsenen ist es klar, dass man nicht in Gruppen einem ungewöhnlich aussehenden Menschen folgen soll. Ab und zu nimmt allerdings die Neugierde überhand – zum Beispiel wenn irgendwo ein Unfall ist, dann wollen alle gucken, sodass die Rettungsmannschaft manchmal einen Sichtschutz aufstellen muss.

Allerdings kann man seinem Voyeurismus durchaus reichlich nachgehen. Da gibt es die Nachrichten, die im Stundentakt von TV und Radio verbreitet werden, da gibt es das Internet, das es einen möglich macht, allem Möglichen zu folgen. Zusammen mit tausenden von anderen Menschen, die man aber alle nicht sieht. Eine phantastische Entwicklung.

Oft frage ich mich selber, welchen Dingen ich (unbewusst) “johlend” nachlaufe. Was lache ich also eher aus und was ahme ich eher nach? Welches sind die Webseiten, die ich häufig aufrufe und welche Nachrichten höre ich mir häufig an? Und ahme ich die Dinge dann eher nach, oder “necke” ich sie eigentlich? Und können die Antworten darauf wahr sein, oder sind die immer hinter meinem “blinden Fleck”?

Stellst Du Dir auch manchmal solche Fragen?
Und glaubst Du Deinen eigenen Antworten?


Bild oben: Simmersiedlung / 23cm x 15cm / Aquarell, Ecoline und Tusche auf Papier / 2006, Nr.06-073