Freie Schule Albris - Foto: privat
Ich habe erst vor kurzem die zahlreichen Artikel, Forenbeiträge und Kommentare über die Freie Schule Albris entdeckt und finde es faszinierend, wie unterschiedlich diese Einrichtung bewertet wird – da finden sich vernichtende Urteile mit teils persönlichen Diffamierungen, an anderer Stelle wieder wird diese Schule in den höchsten Tönen gelobt und der Gründer Sigurd Böhm als »Gallionsfigur« bezeichnet. Wer hat recht? Beide Seiten? Liegt die Wahrheit wie so häufig irgendwo dazwischen?Ein Gastartikel von Jan Schwab
Von 1985 bis 1992 war ich selbst Schüler an der damaligen Freien Waldorfschule Kempten. Nach sieben Jahren stand für mich fest, dass ich diese Welt verlassen wollte. Fazit: Ich habe es nicht bereut.
Nicht alles war schlecht an dieser Schule. Das hört man von ehemaligen Schülerinnen und Schülern der Freien Waldorfschule Kempten/Freien Schule Albris immer wieder, und dieser Einschätzung schließe ich mich an. Dass dort beispielsweise dem Kunstunterricht ein höherer Stellenwert eingeräumt wird als an den meisten staatlichen Schulen, das gefällt mir. Auch wäre ich sehr dafür, wenn sich staatliche Schulen beim Thema »Fremdsprachenunterricht ab der 1. Klasse« generell ein Beispiel an den Waldorfschulen nähmen – ich führe meine guten bis sehr guten Leistungen in den Fächern Englisch und Französisch im Abitur zu einem erheblichen Teil auf die Basis zurück, die in der Waldorfschule gelegt wurde.
Der Werk- und Handarbeitsunterricht hat mir zumindest nicht mehr geschadet als andere, von mir nur halbwegs mit Begeisterung aufgenommene Unterrichtsfächer später auf dem Gymnasium. Meinem damaligen Klassenlehrer ist es zu verdanken, dass ich gerne an die Geschichts-, Physik-Epochen und Klassenausflüge zurückdenke (obwohl mir Epochenunterricht generell nicht wirklich entgegenkam). Inwieweit der Inhalt des Unterrichts auf unwissenschaftlichen Erkenntnissen beruht – mit dieser Frage müsste ich mich eingehender beschäftigen. (Lukas Böhnlein z.B. kümmert sich darum auf seiner Webseite.)
Leider hören hier meine positiven Erinnerungen auf. Unterm Strich beschleicht mich ein unangenehmes Gefühl, wenn ich an die ersten sieben Schuljahre zurückdenke. Wie kann das sein, bei dem Lob, das ich wie gesagt für einen Teil des Unterrichts und einige Lehrkräfte übrig habe?
Auf dass der Mensch sich selber schaffe
»Wage deinen Kopf an den Gedanken, den noch keiner dachte. / Wage deinen Schritt auf die Straße, die noch niemand ging. / Auf dass der Mensch sich selber schaffe, und nicht gemacht werde von irgendwem oder irgendwas.« Dieses Schiller-Zitat fand ich kürzlich auf der Webseite der Schule. Meine zentrale Kritik an der Freien Schule Albris / FWK besteht darin, dass sie meines Erachtens nur unzureichend dem Anspruch gerecht wird, den sie vor sich her trägt. Die Schule möchte freie, selbst denkende Individuen hervorbringen – ich hatte allerdings häufig eher das Gefühl, dass der Rahmen viel zu eng gesteckt war, um als Schüler dieses hohe Ziel zu erreichen. Man wurde in ein Korsett hineingezwängt, und wer versuchte, da wieder herauszukommen, der wurde bestenfalls schräg angeschaut. So habe ich es zumindest empfunden.
Wer wie ich kein »Leuchten in den Augen« hatte beim Anblick des neu zu lernenden Buchstaben an der Tafel, der wurde vom Lehrer argwöhnisch betrachtet, das fehlende Augen-Leuchten anschließend im Zeugnis kritisiert. Hätte es sein können, dass so manchem Schüler ein neuer Buchstabe pro Woche schlichtweg zu wenig ist, dass Langeweile und Unaufmerksamkeit die logische Konsequenz sind? Undenkbar offensichtlich für so manchen Pädagogen. Die Schüler hatten ehrfürchtig zu erstarren, wenn das neue Tafelbild präsentiert wurde. Andächtig hatte man zu sein - und wehe, wenn nicht! Dabei können Staunen und Ehrfurcht doch nicht verordnet werden; Kinder sind entweder aufrichtig erstaunt und erfreut, wenn sie einen Kerzentisch oder ein Bild erblicken, oder eben nicht. Erzwingen kann man das nicht. »Seid mal schön andächtig jetzt, aber ein bisschen plötzlich!« Wer als Lehrer diese Erwartungshaltung an die Schüler heran trägt, wird regelmäßig enttäuscht werden.
Klavier spielen an der Waldorfschule? Veto!
Vom Musiklehrer wurden wir eines Tages gefragt, welches Instrument wir im Rahmen des Schulunterrichts gerne spielen möchten. Für mich stand die Wahl fest: ich erhielt bereits privaten Klavierunterricht und freute mich, dass ich nun auch die Möglichkeit erhalten sollte, in der Schule in die Tasten zu greifen. Das heißt, wenn man mich gelassen hätte. Klavier, das ginge leider nicht, da müsse ich mir etwas anderes überlegen, meinte der Lehrer. Ohne Begründung. Auf Nachfrage meiner Mutter hieß es sinngemäß: »Der Jan ist nicht bereit für das Klavierspielen, das würde ihn nur überfordern.« Ein (Vor-)Urteil, und die Sache war für den Lehrer erledigt. Ich habe mich dann äußerst widerwillig der Geige gewidmet. Schade eigentlich, dass Friedrich Schiller da nicht zugegen war mit seinem Spruch: »Auf dass der Mensch sich selber schaffe, und nicht gemacht werde von irgendwem oder irgendwas.«
Was ich bis heute nicht begreife: Warum konnten sich die Schüler ihren Zeugnisspruch nicht einfach selbst aussuchen? Das hätte vielleicht dazu geführt, dass sich so mancher etwas besser mit dem identifiziert, was er da Woche für Woche vor der Klasse rezitiert. Nun gut, der Spruch war vorgegeben. Aber zumindest eine Diskussion im Unterricht, was uns diese Zeugnissprüche sagen sollen, hätte sich sicherlich so mancher Schüler gewünscht. Und das Verbot, bis zur 4. Klasse das eigene Zeugnis zu lesen, hat nur dazu geführt, dass meine Geschwister und ich es kaum erwarten konnten, bis wir zuhause nachsehen durften, wie wir von den Lehrern bewertet wurden. Klar, über manches haben wir uns mächtig aufgeregt! Über anderes haben wir uns wahnsinnig gefreut, und gelacht haben wir sowieso, denn so mancher unserer Lehrer bewies mit seinen Einträgen ein Talent als Satiriker.
Fragwürdige Erziehungsmaßnahmen
Auf die Vorwürfe an die Schule, gewisse »Erziehungsmaßnahmen« zu dulden, wie sie an staatlichen Schulen heute kaum mehr üblich wären, will ich an dieser Stelle nicht eingehen; dieses Thema wurde ausführlich in der Presse behandelt, und völlig falsch liegt die Berichterstattung nicht. Ganz allgemein habe ich den Eindruck, dass der fehlende Notendruck unweigerlich dazu führt, dass überforderte Lehrkräfte regelmäßig zu Maßnahmen greifen, die man bestenfalls als fragwürdig, auf keinen Fall jedoch als zielführend beschreiben kann.
Was die Unterrichtsinhalte betrifft, bin ich persönlich nie in einen Konflikt mit den Lehrkräften geraten – ich war zu schüchtern und zu verträumt, als dass ich damals bereits offensiv Kritik geübt hätte. Ich weiß aber von Eltern zu berichten, die während der Elternabende regelmäßig das Gefühl bekamen: offene Kritik wird äußerst ungern aufgenommen, humorvoll vorgetragene schon gleich zweimal nicht. An der Böhm’schen Version der Anthroposophie habe ich insofern kaum Anstoß genommen, da ich bis zum heutigen Tag nicht verstehe, was Sigurd Böhm uns allen eigentlich sagen wollte. Dies mag an mir selbst liegen.*
Ob die Freie Schule Albis als Sekte einzustufen ist, mögen Experten entscheiden, die sich eingehend mit Sekten beschäftigen. Aus meiner Sicht und aufgrund meiner eigenen Erfahrungen würde ich zumindest so weit gehen: einige Rituale (z.B. das Sich-Abschotten gegenüber der Welt außerhalb der Schule, Wochenbeginn und -abschluss bei Kerzenschein, der zum Teil fragwürdige Umgang mit Kritik) erinnern ein wenig an Vorgänge, wie man sie von Sekten kennt. Dass nach meinem Wechsel aufs Gymnasium meinen Eltern nahegelegt wurde, meine beiden Geschwister ebenfalls von der Schule zu nehmen – solch eine Forderung ist mir von Seiten der staatlichen Schulen in Deutschland nicht bekannt. Zu einer Sekte passt solch eine Forderung schon eher. Fairerweise muss ich hinzufügen, dass nach dem Bekanntwerden meiner Entscheidung keinerlei Druck auf mich ausgeübt wurde. Mein Klassenlehrer führte am letzten Tag vor den Sommerferien ein freundliches Gespräch mit mir, verbunden mit der Bitte, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Äußerst stutzig macht mich, dass Kritiker der Freien Schule Albris, die sich im Internet äußern – also in der Regel ehemalige Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte – nur selten bereit sind, das Geschriebene mit ihrem Namen zu versehen. Ist dies auf die Art und Weise zurückzuführen, wie diese Schule generell mit Kritik und Kritikern umgeht? Was haben diese Leute – sofern sie sich nicht im Ton vergreifen – zu befürchten, wenn sie sich »outen«?
Selbstentlassung in die »Welt da draußen«
Da ich bis zuletzt mit der Lehre Rudolf Steiners nichts anzufangen wusste, lief ich mit einem großen Fragezeichen im Kopf herum. Das ständige Gefühl, man sei etwas Besonderes, das einem als Schüler aufgedrängt wurde im Schulalltag, und die damit verbundene Warnung vor der »Welt da draußen« - das hat mich misstrauisch gemacht, aber auch neugierig: Wie ist es denn wirklich »da draußen«? Ich habe es bald erfahren dürfen. Ja, es stimmt: Die Welt da draußen ist voller Schrecken. Sie ist manchmal unerträglich unvollkommen und vor allem ungerecht. Aber auch unglaublich schön und bunt und faszinierend. Die schönen Seiten lassen sich ohne Korsett einfach angenehmer entdecken.
Jan Schwab
*Ich bin dankbar für Erläuterungen von Menschen, die ihn verstanden haben. Wer kann mir in einfachen, gut nachvollziehbaren Worten (bitte nicht wortgetreu!) auf 5 bis 10 Seiten den Kern der Anthroposophie aus dem Blickwinkel des Schulgründers Sigurd Böhm erklären, so dass auch ich es nach fast 30 Jahren verstehe?
Vergleiche dazu die beiden Artikel "Freie Schule Albris" vom 2. Mai 2012 und "Mein Leben mit der Freien Schule in Albris" vom 6. Juli 2012 hier im Blog.