Der Titel ist sperrig, der Ankündigungstext bei ImpulsTanz, dem Festival für zeitgenössischen Tanz, auch. Ian Kaler hat mit „o.T. I (Gateways to movement)“ eine weitere Produktion, die zweite seiner o.T.-Serie, vorgestellt. Diesmal gemeinsam mit Philipp Gehmacher und dem Sound von AQUARIAN JUGS aka Jam Rostron. Von Sperrigkeit ist während der einstündigen Aufführung jedoch nichts zu bemerken.
Ian Kaler, der eigentlich von der Bildenden Kunst kommt und erst mit 20 zum Tanz kam, fasziniert mit seiner neuen Produktion rundum. Das Pas-de-deux mit seinem Tanzkollegen Philipp Gehmacher, das so harmlos beginnt, entwickelt sich zu einem furiosen, komplexen Werk. Dabei tauchen die beiden mithilfe des rhythmisch eindringlichen Sounds von AQUARIAN JUGS aka Jam Rostron sichtbar in Trance-ähnliche Zustände und lassen das Publikum staunen.
Ab wann beginnt Tanz? Was ist Tanz? Wann sind Bewegungen als Tanz erkennbar? Wie wirkt sich gemeinsames Arbeiten auf das eigene Bewegungsvokabular aus? Wo trifft Improvisation auf eine festgelegte Choreografie? Wann überstrahlt das Gemeinsame das originär Erarbeitete? Wie wirkt sich der Raum auf eine Choreografie aus? Fragen über Fragen, die sich nicht nur aufdrängen, sondern die sich die beiden Tänzer und Choreografen während ihrer Arbeit an diesem Werk wohl auch gestellt haben. Die Grundbedingung dafür geht jedoch von der musikalischen Untermalung aus. Sie liefert nicht nur den Rhythmus, sondern auch die farbigen Schattierungen, die genutzt werden, um unterschiedliche emotionale Zustände darzustellen. Dabei ging Kaler nicht von einem fixen Gerüst aus. Weder die Choreografie, noch die Musik standen von vorneherein fest, sondern wurden in einem gemeinsamen Prozess, in dem sich die Kreativen permanent austauschten, entwickelt.
Langsam betreten Kaler und Gehmacher die dunkle Bühne. Stephanie Rauch hält diese bis auf ein silbernes Wandpaneel hinter dem Lampen installiert sind, ganz schwarz. Eine eingezogene Wand verkleinert die Breite des Raumes im WUK zusätzlich und konzentriert das Geschehen, das sich vor einer Reihe von am Boden installierten Scheinwerfern (Jan Maertens) abspielt. Sie lassen die Körper in bestimmten Momenten nur schemenhaft erscheinen. Das Publikum muss seinen Blick konzentriert halten, um die Tänzer, die auch Outfits in unterschiedlichen grau-schwarz-Schattierungen tragen, gut ausmachen zu können. Ein intensiver Zweier-Rhythmus zwingt Gehmacher als erstes in die Knie. Seine Choreografie bleibt über lange Strecken bodenbehaftet. Was zuerst wie ein Sich-im Rhythmus-Wiegen erscheint, entpuppt sich bald als eine Körperbewegung, die unter Schlägen zusammenzuckt. Permanent duckt er sich vor diesen Torturen. Kaler hingegen tastet den Boden rund um sich ab, als hätte er etwas verloren. Seine Kreisbewegungen, die er mit den Armen ausführt, werden später auch im Stehen wiederkommen. Es ist in seiner Choreografie an diesem Abend ein eigenes Vokabular, das Gehmacher am Ende der Session teilweise aufnimmt.
Ian Kaler reagiert auf Gehmachers fragile Körperlichkeit mit mechanischen Bewegungen. So, als sei er ferngesteuert, ein Arbeitsroboter, nicht geschunden, aber getrieben. Ab und zu stehen oder knien sich beide gegenüber. Sehen sich zu, interagieren ein wenig. Empathie wird dabei ausgedrückt, aber auch eine Rivalität, die an einer Stelle in einen veritablen Kampf ausartet. Immer wieder tänzelt Kaler ähnlich wie behände Boxer durch den Raum, schwebt förmlich über dem Boden und lässt dabei Elemente aus Pop-Choreografien einfließen. Es sind nur kurze Zitate, aber mit ihnen befindet er sich abseits des elitären Tanzgeschehens völlig im Hier und Jetzt des Mainstream-Bewegungsvokabulars. Eine geniale Verbindung von unterschiedlichen tänzerischen Herangehensweisen, die alle ihre Berechtigung haben, aber meist in ganz unterschiedlichen Kontexten streng getrennt angewandt werden.
Gehmacher schlüpft während des Auftrittes immer stärker in die Rolle eines Menschen, der seinen Geist verloren hat. Er durchquert als Vierfüßler den Raum diagonal, hält sich seine Hände vors Gesicht und kehrt immer wieder in die demütigende Knie-Position zurück. Die herausfordernde Choreografie, die den beiden keine Sekunde Pause gönnt, wechselt von einer intensiven Beinarbeit in der ersten Hälfte des Stückes zu einer, in der die Arme bestimmend wirken. Nach einer beruhigten Partie, in der der Sound nicht nur von seiner Lautstärke her, sondern auch von seiner Stimmung kalmierend wirkt, agieren Gehmacher und Kaler wieder jeder für sich alleine. In einem letzten Aufbäumen unter dem Einsatz von Stroboskop-Blitzen verschwinden sie von der Bühne und lassen Licht und Beat kurz auf das Publikum nachwirken.
o.T. / (gateways to movement) eröffnet dem Publikum multiple Interpretationsansätze. Es offeriert keine feststehende, nachvollziehbare Geschichte, aber viele einzelne Momente, die, wenn man sich auf sie einlässt, etwas in einem selbst auslösen können. Die Produktion, in der die beiden Freunde sich ganz aufeinander einlassen, ist der Versuch von Kaler, eine Blackbox mit Bewegungen zu füllen. Sie mit Energie aufzuladen, die von zwei Körpern, einem Raum-Lichtgebilde und einer Musik ausgehen, die ein starker Emotionsträger aber auch Bewegungsmotivator ist. Das Publikum kann sich auf den dafür vorbereiteten Stehreihen bewegen, auch tanzen, wenn es möchte. Die Erwartungshaltung, statisch bei einer Aufführung in einem Sessel zu sitzen, wird gleich nach Eintritt in den Raum gebrochen. Der körperlich spürbare Beat gibt genügen Impuls, um nachvollziehen zu können, dass ein Tänzer gar nicht anders kann, als auf diesen Reiz zu reagieren. Es wird keine zwei Vorstellungen geben, die gleich sind. Und es wird keine zwei Menschen geben, deren Empfindungen während der Aufführung gleich sind. Dennoch kann ein Vokabular gefunden werden, welches das Phänomen der Bewegungen von zwei Körpern in diesem dunklen Raum so beschreibt, dass zumindest der Anker für eine gemeinsame Erinnerung gesetzt werden kann.