Wo die Normandie keinen Winterschlaf macht

Von Urlaubaer

Im Dezember ist die französische Alabasterküste erstaunlich belebt

Die normannische Küste hat alles: endlose Weiten, zerklüftete Felsen, elegante Seebäder, eine großartige Küche und, ja, auch viel Geschichte. Die Spuren zweier Weltkriege locken noch heute die Nachkommen britischer und amerikanischer Soldaten an die Schauplätze des Geschehens, vor allem zu den Landungsstränden der Cotentin-Halbinsel.

In früheren Aufenthalten haben wir den historischen Teil „abgearbeitet", wozu auch ein denkwürdiges Abendessen mit einer amerikanischen Veteranen-Familie in einem Chambre d'hôte zählt. Chambres d'hôtes, das sind jene typisch französischen Pensionen, wo man mit Gastgeber(n) oder Mit-Gästen gemeinsam an einem Tisch speist und plaudert ... und mehr mitnimmt als aus jedem Hotelurlaub.

Diesmal sind wir in Étretat, einem dieser berühmten Orte an der so genannten Alabasterküste, die sich von Le Havre im Süden bis Dieppe im Norden zieht. Ihr besonderes, ständig wechselndes Licht taucht die Felsen in jenen Glanz, der der Küste ihren Namen gab - ein Faszinosum, vor allem für Künstler.

Kein Wunder, dass sich im 19. Jahrhundert viele Maler hier niederließen oder sich zumindest eine Zeitlang vor Ort für ihre neue Kunst inspirieren ließen, die sie „ Impressionismus" nannten. Die Felsen von Étretat malten sie alle: Claude Monet, Gustave Courbet, Camille Corot, Eugène Delacroix, um nur die wichtigsten zu nennen. Aber auch Schriftsteller zog das Seebad magisch an. In seinem Haus „La Guillette" in Étretat schrieb Guy de Maupassant seinen Welterfolg „Bel Ami", ein paar Schritte weiter erfand Maurice Leblanc die Abenteuer seines Gentleman-Ganoven „ Arsène Lupin " . Die Älteren unter Euch erinnern sich vielleicht noch an die gleichnamige Kultserie, die im deutschen Fernsehen der 1970er Jahre lief.

An diesem Ort eine Woche zu verbringen, ist im Grunde zu jeder Jahreszeit ein Vergnügen. Doch zugegebenermaßen sind wir überrascht, die Küste im Dezember beinahe in Hochsaisonstimmung zu finden. Wir haben ein kleines „maison de pecheur" gemietet, ein Ferienhaus, wo wir ein paar Tage mit dem französischen Teil meiner Familie verbringen wollen. Was eigentlich „Fischerhaus" meint, gehörte genaugenommen einem „armateur", einem Schiffsausrüster, was die vielen kleinen Erinnerungsstücke aus Seil und Holz erklärt, die übers ganze Haus verteilt sind.

Wir sind sozusagen mitten im Geschehen: Bäcker, Metzger, Fischgeschäft, ein kleiner Supermarkt, unzählige Restaurants und, natürlich, Strand und Felsen, sind nur ein paar Fußminuten entfernt. Die Nachbarin nebenan bringt „ Petits Fours de Paris " , die eigentlich aus dem Franche-Comté kommen, erfahren wir, und dort um diese Zeit eine Tradition sind. In jedem Fall sind sie eines: lecker!

Gleich um die Ecke liegt das Anwesen „ Clos Arsène Lupin" , das wir mit größtem Vergnügen besichtigen. Auf den ersten Blick scheint der Eintritt von 7,50 € pro Person hoch, doch lohnt jeder Cent: mittels Audioguide (verfügbar in englischer und französischer Sprache) wird man etwa eine dreiviertel Stunde lang durchs Haus begleitet. Das Besondere: der Guide ist kein Geringerer als Arsène Lupin daselbst, mal im Dialog mit seinem Schöpfer, mal mit anderen Romanfiguren. Unterstrichen von einer musealen Gestaltung, die die Grenzen zwischen Leblanc und Lupin verschwimmen lässt, entsteht so eine erstaunliche, geradezu physische Präsenz.

Die amüsante, großartig gesprochene englische Führung hätte ich gern als Hörspiel mitgenommen ... Ach so: ja, es hilft, wenn man zumindest „Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich" kennt. Aber auch Nichtkenner versicherten mir, sie seien durchaus auf ihre Kosten gekommen. Anregende Lektüre bietet übrigens auch Georges Simenon, der seinen berühmten Kommissar in „Maigret und die alte Dame" in Étretat ermitteln lässt wie auch Guy de Maupassant mit „Ein Leben", das einen kritischen Blick auf die großbürgerliche Existenz der Region im 19. Jahrhundert wirft.

Wer gern kocht, weiß, dass man mitunter weite Wege auf sich nehmen muss, um Fisch aus heimischen Gewässern zu bekommen. Étretat ist da leider keine Ausnahme, zumal der Ort nicht einmal mehr über einen eigenen Hafen verfügt. Wer will schon Crevetten aus Mexiko? Die gute Nachricht: im etwa zwanzig Kilometer entfernten Fécamp gibt es noch reichlich Fisch aus der Manche. Die üppigen Auslagen der Poissonnerie mit dem irritierenden Namen „La Nouvelle Vague" lassen jedes Hobbykoch-Herz höherschlagen.

Weniger erfreulich: die Markthalle in Le Havre. Weil Sonntag ist, können wir kostenlos parken, doch ist die Stimmung rasch gedämpft: Etwa die Hälfte der denkmalgeschützten „Halles Centrales" besetzt ein Supermarkt, die übrigen Stände sind hochpreisige Feinkostgeschäfte, der eigentliche Markt (mit durchschnittlichem Angebot) findet draußen statt. Spaß macht dagegen die Promenade mit Seebadatmosphäre: man joggt, flaniert, trifft Leute - ein lustvoller Ort. Die Stadt ist uns auf den ersten Blick sympathisch. Wir setzen einen (längeren!) Aufenthalt in Le Havre (angenehm professionell: die dortige Touristeninformation) auf unsere Liste zukünftiger Unternehmungen und begnügen uns fürs erste mit der Hafenstadt Honfleur.

Das jenseits der Seine gelegene alte Hafenstädtchen (Mautgebühr der unumgänglichen Brücke „ Pont de Normandie „: satte 11,00 € für Hin- und Rückfahrt) haben offenbar auch japanische Reiseveranstalter entdeckt.

Wir freuen uns über die Gelassenheit der Gastronomen, vor allem im „Maison Bleue" am Alten Hafen, und bummeln durch die Gassen. Eher beiläufig werfen wir einen Blick in die Kirche Sainte Catherine, Frankreichs größte und älteste Holzkirche. Wir sind sofort eingenommen von der starken Atmosphäre im Inneren. Sehenswert!

Im Grunde aber heißt unser aller Highlight: Yport. Keine zehn Autominuten von Étretat entfernt sehen wir den kleinen Küstenort zuerst von oben, malerisch in einer Bucht gelegen. Anfangs sind wir allein am Strand, an dem - ganz traditionell - noch mit kleinen Booten gefischt wird.

Später kommen ein paar Ausflügler dazu. Wir entdecken abenteuerlich geformte Muscheln und Seeschnecken (Sammeln verboten!), suchen erfolglos nach Fossilien und Felshöhlen,

beobachten Möwen beim Fischfrühstück ...

... und eine Mutige, die sich (ohne Neopren!) ins Wasser wagt. Es ist einer dieser Orte, an denen man bleiben und die Zeit vergessen kann.

Ein stürmisches Intermezzo ist an der Küste um diese Jahreszeit immer möglich. Wir erleben es ganz zum Schluss unseres Aufenthalts. Großes Theater am Strand in Étretat: Das Meer. Eine Inszenierung mit Bühnenbeleuchtung. Noch ist es nicht gefährlich, allenfalls fürs Kameraobjektiv.

Wer übrigens nicht in einem Rutsch an die Alabasterküste durchfahren will, sollte unbedingt eine Zwischenübernachtung in Lille einplanen. Die ansonsten eher abseits deutscher Urlaubsrouten gelegene ehemalige Kulturhauptstadt Europas und Heimat Charles de Gaulles ist es wert, entdeckt zu werden. Hervorragender Ausgangspunkt ist der architektonisch bemerkenswerte Stadtteil „Vieux Lille", ...

... wo man sehenswerte kleine Apartments und Studios mieten kann, um von dort aus zu Fuß die Stadt zu erkunden.

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