Wo der Deutsche ist, ist Deutschland. Zur Debatte über polnische Mobilmachung.

Von Lyrikzeitung

Von Jan M. Piskorski (Stettin / Szczecin)

Der polnische Historiker Jan Piskorski schrieb einen Beitrag für die deutsche Debatte um die polnische Mobilmachung vom März 1939, der von einer Bemerkung Erika Steinbachs ausging. Leider schlug die „Zeitung für Deutschland“ das Angebot eines deutsch-polnischen Dialogs aus. Wir dokumentieren hier den Beitrag unseres Autos (Jan Piskorski ist seit dem ersten und auch im in Vorbereitung befindlichen dritten Band unseres „Pommerschen Jahrbuchs für Literatur“ mit engagierten Stellungnahmen zur gemeinsamen polnisch-deutschen Geschichte vertreten).

Wir wissen, wie man Lügen verbreitet, die der Wahrheit ähneln – sagten die Musen vor fast drei Tausend Jahren zu Hesiod, ermunterten ihn allerdings dazu, die Wahrheit zu schreiben. Obwohl Wahrheit nicht in jedem Fall für jeden das Gleiche bedeutet, vertrauen wir doch, dass es Grenzen des Absurden gibt. Am besten hat das einige Jahrhunderte später Euripides zum Ausdruck gebracht, als er die schöne Helena verspottete. Diese hatte die Schuld am Ausbruch des Trojanischen Krieges Hekabe gegeben, der alten Königin Trojas. Das Unglück nahm seinen Lauf, weil Hekabe Paris gebar, rechtfertige Helena vor ihrem Mann ihre Flucht mit dem Geliebten. Die Vorsitzende des BdV, Erika Steinbach, die kürzlich die polnische Mobilmachung im März 1939 süffisant zum Urgrund des Zweiten Weltkriegs machte (um sogleich den Sinn ihrer Rede in Bezug auf die Absicht derselben zu dementieren), und der Publizist Lorenz Jäger, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Steinbachs Argumentation mit sog. neutralen Tatsachen auf gewisse Weise unterstützt („Polen und der Zweite Weltkrieg. Countdown für den Untergang“, FAZ am 14.09.2010), müssten für Helenas Argument viel Verständnis aufbringen können, weil eben so die „Fakten“ sind. Dabei schmunzeln wir noch heute an dieser Stelle des ersten großen Vertreibungsdramas, weil es für uns offensichtlich ist, dass diese „Tatsache“  nichts anderes als Halbwahrheit und Manipulation ist. Nackte Tatsachen, wie man weiß, sagen gar nichts. Wichtig ist nur und einzig ihre humanistische Interpretation.

„Historisch unstrittig ist jedenfalls, dass Polen im März eine Teilmobilmachung seiner Streitkräfte anordnete“ – schreibt Jäger, in einer Polemik mit Heinrich August Winkler, der Steinbach Verfälschung der Geschichte vorgeworfen hat. Nachdem der Journalist der FAZ die angebliche Wahrheit der Tatsachen betont hatte, darunter die von Winkler „vergessene“ polnische Mobilmachung vom Ende März 1939, geht er dazu über, Hitlers Politik zwischen Herbst 1938 und Sommer 1939 darzustellen. Im Herbst 1938 sei das mehrheitlich von den Deutschen besiedelte Sudetenland Deutschland zugestanden worden. Im März 1939 habe Hitler das ebenfalls mehrheitlich von Deutschen bewohnte und ehemals deutsche Memelgebiet zurückgeholt. Wir hätten es hier also nach seinem Verständnis eher nur mit der Sammlung der deutschen Lande zu tun, die man dem Reich unrechtmäßig in Versailles weggenommen hatte. Dass das Sudetenland niemals zu Deutschland gehört hatte, scheint den Verfasser nicht zu stören, obwohl sudetendeutsche Vertriebene, wie etwa einer der Gründer des BdV Wenzel Jaksch, dies mit Nachdruck immer wieder betonten. Damit wiesen sie zu Recht darauf hin, dass sie aus ihrem Vaterland, der Tschechoslowakei, hinausgeworfen und einem Land zugeschanzt wurden, dem sie nicht und in dieser Form niemals angehört haben – Deutschland. Unmittelbar nach dem Krieg behandelte man die Sudetendeutschen sogar in Österreich, dessen Staatsbürger sie bis 1918 gewesen waren, als „deutschsprechende Tschechoslowaken“.

Jäger geht aber noch einen Schritt weiter, indem er die Forderung, Danzig ins Reich einzugliedern, nur als Fortsetzung „der eigentlichen Revisionspolitik“ behandelt. Diese trennt er von den Eroberungen, die mit der Zerstörung des tschechoslowakischen Staates im März 1939 einsetzten. Auch Danzig sei in erdrückender Überzahl von Deutschen bewohnt gewesen. Das hätte wohl Polen verstehen und von seinen „Prestigebedürfnissen“ loslassen müssen. Dass die Stadt auch Jahrhunderte einträchtiger deutsch-polnischer Geschichte aufzuweisen hatte und dass die Danziger Deutschen genauso lange gute Bürger der multikulturellen Rzeczpospolita gewesen waren, bedarf wohl angesichts der Überzeugungskraft der „eigentlichen Revisionspolitik“ keiner Erwähnung.

„Wo der Deutsche ist, ist Deutschland”, denkt anscheinend der deutsche Publizist im Sinne der deutschen Nationalisten vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, obwohl er – im Gegensatz zu ihnen – weiß, was geschah, als Politik und Militär sich in der Lage sahen, sie rigoros, nach eigener Auslegung, umzusetzen. Der grausame Krieg mit Millionen Morden und der Vernichtung der europäischen Juden sowie riesige Umsiedlungen vor allem in Ostmitteleuropa waren zwar keine zwingende aber doch seltsam konsequente Folge. Am Ende traf die Apokalypse die Deutschen selbst. Flucht und Vertreibung sind ein untrennbarer Teil dieses Dramas, zugleich aber auch, wie der Historiker Timothy Snyder von der Universität Yale betont, der unblutigste Teil.

Es ist gut, wenn der historisch denkende Publizist die Sicht der Vorfahren – möglichst nicht nur seiner eigenen – ernst nimmt. Problematisch wird es, wenn er sie unvermittelt zu seiner eigenen Perspektive macht. Schließlich ist er, wie der polnische, in Paris lehrende Historiker Krzysztof Pomian schreibt, viel klüger als seine Vorfahren. Tatsächlich dachte damals fast ganz Europa in ethnographischen Kategorien, vor allem aber Mittel-, Ostmittel- und Südosteuropa, die Teile des Kontinents also, die bis 1918 von Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn beherrscht wurden. Hier fühlten sich nach dem Ersten Weltkrieg alle ungerecht behandelt: die immer noch mächtigen Deutschen, die Österreicher und Ungarn, die ihre Großmachtstellung verloren, bis hin zu den Mazedoniern und Ukrainern, die ihren Traum von der Unabhängigkeit nicht verwirklichen konnten. Die Polen waren alles in allem erfolgreich, was nicht heißt, dass alle zufrieden waren. Dennoch hatten sie nach über hundert Jahren Unfreiheit eine in dem Maße starke Position erkämpft, dass sie weit mehr als nur „heimliche“ – wie Jäger nach Joachim Fest meint – „Großmachtträume“ entwickeln konnten. Ihnen ging es allerdings nicht um Eroberungen, sondern um die Schaffung eines starken Blocks neutraler Staaten zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der kommunistischen Sowjetunion. Das gelang ihnen nicht, hat womöglich auch nicht überzeugend gewirkt, obwohl alle Staaten, abgesehen von der Tschechoslowakei, mehr oder weniger autoritär regiert waren und ihnen allen das Gefühl der Bedrohung durch die beiden großen Nachbarn vertraut war, die darauf brannten, Rache zu nehmen. Tatsächlich nutzte Polen die von Hitler durch das Münchner Abkommen geschaffene Gelegenheit und besetzte 1938 auf Grundlage eines ähnlichen Abkommens das Olsa-Gebiet. Kein ernst zu nehmender Mensch in Polen würde heute versuchen, die Annexion als Rückholung von Polen besiedelter Gebiete zu rechtfertigen. Im Gegenteil, Polen schämt sich dafür, was polnische Politiker nach 1989 vielfach zum Ausdruck gebracht haben. Zum letzten Mal tat dies vor einem Jahr Lech Kaczyński. Im tschechischen Olsa-Gebiet wohnen weiterhin mehrheitlich Polen, und das stellt kein Problem dar.

Man kann Polen in der Zwischenkriegszeit viel vorwerfen. Ganz Europa ist mit der politischen Krise am Ende der dreißiger Jahre nicht fertig geworden. Allzu lange ließ man sich von Hitler täuschen, den man bis 1938 nicht selten als Realisten bezeichnete. In Ostmitteleuropa gab es sicherlich viele, die Hitler für seine politischen Erfolge bewunderten. Die Bewunderung galt auch seiner Innenpolitik, darunter auch dem Verhältnis zu den Juden, was sich in Ostmitteleuropa im zunehmenden Antisemitismus zeigte. In Polen erlagen nicht nur die autoritäre Regierung sondern sogar viele deutschlandkritische Intellektuelle der Koketterie des Werbers von der Elbe. Ein einflussreicher polnischer Historiker verglich ihn sogar mit König Władysław Łokietek, der im Mittelalter die polnischen Lande vereint hatte. Was auch immer man über das Polen der Zwischenkriegszeit sagen mag, besteht kein Zweifel daran, dass es an der Stabilisierung des Systems von Versailles interessiert war. Die Polen waren sich darüber im Klaren, dass sie einer direkten Konfrontation mit Deutschland, geschweige denn einem Zweifrontenkrieg, nicht gewachsen waren. Dass die „deutsche Schlange“ den „polnischen Frosch“ schlucken würde, wie der Literaturkritiker Kazimierz Wyka 1939 kurz nach dem Kriegsausbruch schrieb, war tief im Bewusstsein, mindestens der Eliten, verankert, auch wenn niemand es für möglich hielt, dass der deutsche Angriff so schnell über Polen hinwegrollen würde. Als Wyka dann den „Blitzkrieg“ mit ansehen musste, schien es ihm gewiss, dass die „Kreuzritterschreiberlinge“ – wie er es ausdrückte – danach mit Sicherheit behaupten würden, es sei einzig um „die Wiedergewinnung des deutschen Ostens“ gegangen.

Ostmitteleuropa standen 1939 nur zwei Wege offen: entweder sich mit Hitler gegen die UdSSR und letztlich auch gegen die westlichen Demokratien zu wenden, oder aber gegen Hitler. Es war gut, dass Polen, das „Key to Europe“, wie es kurz vor dem Krieg der Präsident der amerikanischen Foreign Policy Association Raymond Leslie Buell ausdrückte, als einziger Staat in der Region Hitler „Stop“ sagte und auf die Forderung, Danzig abzugeben und auf das Angebot einer Vasallen-Rolle im antisowjetischen Bündnis, mit der Mobilisierung antwortete. Jäger versteht anscheinend nicht, warum die Polen Danzig verteidigten, das für sie – im Unterschied zu Deutschland – vor allem einen symbolischen Wert haben konnte. Es bleibt offen, ob der Publizist sich wirklich nicht darüber im Klaren ist, dass es bei diesem „Spiel“ um etwas ganz anderes ging. „Jeder Dummkopf weiß, dass es hier nicht um Danzig geht. Das ist nur ein Vorwand!“, konstatierte William L. Shirer, der amerikanische Berlin-Korrespondent, der wie kaum einer seiner Zeitgenossen Hitler durchschaute. Er zweifelte nicht daran, dass die Unabhängigkeit Polens, wenn nicht viel mehr, der Einsatz bei diesem Spiel war.