Wo bist du, Liebster?

Sandra hat sich unsterblich in den Franzosen Pierre verliebt. Doch der verschwindet eines Tages spurlos. Da Sandra ihn nicht vergessen kann, reist sie in der Hoffnung, ihn wiederzufinden, nach Aix-en-Provence …
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Müde vom Laufen setzte Sandra sich in ein Café. Wieder war ein Tag vergangen, ohne dass sie ihrem Ziel näher gekommen war. Ihr blieben nur noch zwei Tage in Aix-en-Provence, zwei Tage, um das Rätsel um Pierre zu lösen. Zwei Tage, um das Gefühl der Leere und Verzweiflung auszulöschen, die seine überstürzte Abreise ohne Erklärung bei ihr ausgelöst hatte und sie seit Monaten schier um den Verstand brachte.
Sandra war schön. Ihr schulterlanges blondes Haar war vom sanften Wind zerzaust, die Sonne hatte ihre Haut mit einer leichten Bräune überzogen. Dem jungen Kellner fiel es schwer, den Blick von ihr abzuwenden, als er lächelnd nach ihren Wünschen fragte: “Vous désirez, Mademoiselle?”
”Einen Pastis, bitte.” Blind für seine Bewunderung erwiderte sie nur höflich sein Lächeln.
Während sie auf den Aperitif wartete, lehnte sie sich zurück. Die hohen Platanen des Cours Mirabeau hatten sich mit jungem Grün bedeckt. Bald würden sie einen dichten Tunnel über der Prachtstrasse von Aix bilden und sie in ein zauberhaftes grünes Licht tauchen. Es war Frühling, das Thermometer stieg von Tag zu Tag, aber Sandra nahm es kaum wahr. In ihrem Herzen spürte sie Kälte und Einsamkeit, und gleichzeitig brannte es vor Sehnsucht.
Der Kellner brachte den Pastis und eine Karaffe eisgekühltes Wasser dazu. Während Sandra in kleinen Schlucken das milchige Anisgetränk trank, dachte sie an den letzten Sommer in Bremen. Sie waren eine fröhliche Clique gewesen, hatten nach einem Bummel durch die Altstadt beschlossen, in einem Fischrestaurant zu Abend zu essen. Am Nebentisch hatte ein gutaussehender, dunkelhaariger Mann Platz genommen, der versuchte, sich mit Hilfe von Zeichen und einigen Wortbrocken beim Kellner verständlich zu machen. Sandra hatte sofort seinen französischen Akzent herausgehört und ihm ihre Hilfe angeboten.
Es hatte damit geendet, dass sie den sympathischen Franzosen an ihren Tisch eingeladen hatten. Er stellte sich mit Pierre Duprat vor, erzählte, dass er in Aix-en-Provence lebte und geschäftlich in Bremen zu tun hatte. Dank Sandra, die dolmetschte, und Martin, der ebenfalls gut französisch sprach, kam eine angeregte Unterhaltung zustande. Bald merkte Sandra, dass sie sich unwiderstehlich zu diesem Mann hingezogen fühlte. Er war älter als sie, Sandra schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreissig, während sie selbst erst 27 war, aber das machte ihr nichts aus, im Gegenteil.
Auch Pierre wandte kaum den Blick von ihr ab. Nach dem Essen verabschiedeten sich die anderen, als letzter Martin, ohne dass Pierre und Sandra es wahrnahmen. Die Nacht war warm, zu schön zum Schlafengehen. Sie beschlossen, noch einen Spaziergang an der Weser entlang zu machen.
”Zuerst einmal, woher sprechen Sie so gut Französisch?” wollte Pierre wissen.
”Ich bin Französischlehrerin. Und Sie? Welchen Beruf haben Sie?”
”Ich bin Ingenieur in der Flugzeugindustrie. Heute war meine Arbeit hier beendet, aber ich habe beschlossen, noch ein paar Tage länger in Bremen zu bleiben.” Mit gesenktem Kopf fügte er hinzu: “Ich möchte über verschiedene Dinge nachdenken.”
Der Ernst in seiner Stimme, in seinem Gesicht, verwirrten Sandra. Er schien plötzlich so weit entfernt zu sein. Überstürzt hatte sie von etwas anderem gesprochen, und nach kurzem Zögern war er darauf eingegangen, hatte wieder gelächelt. Sie wusste nicht mehr, über was sie sich unterhalten hatten. Die Worte waren nicht wichtig, sie waren nur ein Vorspiel zu dem, was folgen würde, was folgen musste …
Es waren Ferien, Sandra hatte in diesem Jahr keine Reise geplant, es war, als hätte sie sich unbewusst auf diese Begegnung mit Pierre vorbereitet. Als er sie schliesslich nach Hause brachte, gelang es ihnen nicht, sich zu trennen. Er blieb bei ihr. Die Liebe überfiel sie wie eine Naturgewalt, der sie nicht entrinnen konnten.
Am nächsten Tag holten sie zusammen seine Sachen aus dem Hotel. Nie hatte Sandra schönere Tage, nie leidenschaftlichere und zärtlichere Nächte erlebt. Sie sprachen nicht von der Vergangenheit, nicht von der Zukunft, die Gegenwart liess keinen Raum für den Verstand, für Überlegungen und Pläne. Sandra, die sonst so besonnen, so vernünftig war, erkannte sich nicht wieder …
Eines Morgens war sie aufgewacht und wollte sich in Pierres Arme schmiegen, aber der Platz neben ihr war leer, ihre Hand traf nur auf kühles Laken. Sie wartete ein paar Minuten, dann stand sie auf, um ihn zu suchen. Er war nirgendwo, seine ganzen Sachen waren fort, es war, als hätte er nie existiert. Zuletzt fand sie eine rote Rose auf dem Tisch, sie lag neben einem Blatt Papier, auf dem nur ein einziges Wort stand: “Pardon.”
Es war ein Gefühl gewesen, als würde sie entzweigerissen, als stiesse man ihr einen Dolch mitten in die Brust. Tagelang, wochenlang hatte sie auf eine Nachricht von ihm gewartet, wenigstens auf eine Erklärung. Nichts war gekommen …
Ihr Kollege Martin hatte sich in der Zeit rührend um sie gekümmert. Er war vor einem Jahr als Geschichtslehrer an ihre Schule gekommen. Sandra hatte ihn von Anfang an gern gemocht. Jetzt tröstete er sie, munterte sie auf, schleppte sie in Ausstellungen und Konzerte, machte Radtouren mit ihr und fuhr sogar mit ihr im Herbst nach Wangerooge, weil er sie viel zu blass fand. Dort hatten sie zusammen lange Spaziergänge am windgepeitschten Strand gemacht und abends am Kamin ihres Gasthauses heissen Grog getrunken. Sandra lächelte unwillkürlich, als sie an Martin dachte. Seine Freundschaft war ihr so kostbar. Nur als sie ihm sagte, dass sie in den Osterferien nach Aix-en-Provence fahren würde, hatte er etwas merkwürdig reagiert.
”Warum?” hatte er gefragt, obwohl er die Antwort doch wusste, wissen musste.
”Ich möchte versuchen, Pierre wiederzufinden.”
”Aber Sandra, selbst wenn es es dir gelingt, was versprichst du dir davon?”
”Alles”, erwiderte sie verzweifelt. “Er fehlt mir so sehr, du kannst nicht wissen, wie sehr!”
”Oh doch, ich weiss es”, hatte er traurig erwidert und sie aus seinen guten, brauen Augen angesehen.
Er hatte sie in seinem Wagen zum Flughafen gebracht. “Sandra, sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst, ja?”
”Ich verspreche es dir. Martin, du bist so nett zu mir. Ich weiss gar nicht, wie ich dir danken soll.”
”Du brauchst mir nicht zu danken, ich mach’ es gern”, hatte er geantwortet. Dann hatte er sich abrupt umgedreht und war gegangen.
Sie trank jetzt den letzten Schluck Pastis und fühlte sich etwas zuversichtlicher. Alles war nicht verloren, ihr blieben schliesslich noch zwei Tage. Die Stadt war nicht sehr gross, sie konnte vernünftigerweise damit rechnen, Pierre in einer der engen Gassen, auf einem der kleinen Plätze mit den sprudelnden Brunnen zu begegnen! Natürlich war ihr schon der Gedanke gekommen, dass er sich im Augenblick gar nicht in der Stadt befinden könnte, aber lieber malte sie sich ihre Begegnung aus. Hundertmal, tausendmal hatte sie es getan. Was auch immer der Grund für seine überstürzte Abreise war: Die Liebe würde siegen. Es konnte doch nicht anders sein nach dem, was sie miteinander verbunden hatte!
Alles wäre einfacher gewesen, wenn sie seine Adresse und Telefonnummer gehabt hätte, aber er hatte sie ihr nicht gegeben, und sie stand auch nicht im Telefonbuch. Sie legte das abgezählte Geld mit einem Trinkgeld auf den Tisch. Sie würde in einem der unzähligen kleinen Restaurants zu Abend essen.
In den Gassen herrschte reger Betrieb. Die Menschen waren fröhlich, sie lachten. Verführerische Düfte nach exotischer Küche, nach Knoblauch und Olivenöl durchzog die frühlingswarme Luft.
Sie betrat ein Restaurant, das sie noch nicht kannte - und blieb wie festgenagelt stehen, während ihr Herz anfing, dumpf und schmerzhaft zu klopfen. Da war er, der Mann, den sie so verzweifelt suchte. Aber nicht allein! Mit ihm an Tisch sassen eine attraktive, dunkelhaarige Frau und zwei Kinder, ein Mädchen von etwa zehn und ein Junge von sechs oder sieben Jahren. Alle vier sprachen und lachten durcheinander. Sandra hörte deutlich, wie die Kinder “Papa” und “Maman” zu den Erwachsenen sagten. Pierre war verheiratet und Vater von zwei Kindern!
Die widersprüchlichsten Gefühle stürmten auf Sandra ein: Liebe, Erleichterung, ihn gefunden zu haben, aber auch tiefe Qual und sogar Hass auf den Mann, der sie zum Narren gehalten hatte.
Einen Augenblick empfand sie das brennende Bedürfnis, an seinen Tisch zu gehen, seiner Frau die Wahrheit zu sagen, sich zu rächen. Aber jetzt streckte Pierre über den Tisch hinweg seine Hand aus und berührte die seiner Frau. In dem Lächeln, das die beiden austauschten, lag nicht nur Zärtlichkeit und Liebe, sondern auch ein tiefes Wissen um den Schmerz, den ein Mann und eine Frau sich zufügen konnten. Diese beiden gehörten zusammen, über alle Intrigen und menschlichen Schwächen hinweg. Hatte Pierre seiner Frau von ihr, Sandra, erzählt? Wenn ja, hatte sie ihm verziehen, das war offensichtlich. Und wollte Pierre ihr überhaupt im Sommer verschweigen, dass er verheiratet war?
Sie dachte an ihren Spaziergang an der Weser am ersten Abend, an seine Bemerkung, dass er nachdenken wollte. Sie hatte dem Gespräch sofort eine andere Richtung gegeben. Aus Egoismus, wurde ihr jetzt klar. Sie hatte nicht wissen wollen, was ihn beschäftigte – hatte vor allem nicht wissen wollen, ob es vielleicht eine andere Frau in seinem Leben gab. So gross war ihr Bedürfnis gewesen, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden.
Denn es war Liebe gewesen. Pierre, das sah sie jetzt, und sie hatte es schon im Sommer gewusst, war kein Mann, der ein Abenteuer suchte. Nach seiner Flucht hatte sie nur an ihren eigenen Schmerz gedacht. Jetzt dachte sie an die Gewissensqualen, die Pierre ausgestanden haben musste. Er hatte wählen müssen zwischen ihr und seiner Frau. Sie war froh, dass er sich für seine Frau entschieden hatte. Und für seine Kinder.
Pierre erklärte ihnen gerade etwas. Wie stolz er auf sie war! Und plötzlich war es, als zerriss ein Schleier vor Sandras Augen. Sie sah sich an der Stelle des zehnjährigen Mädchens. Sie hörte ihre Eltern, die sich miteinander stritten. Sie stritten sich ständig. Sie dachte an den Tag, an dem ihr Vater abends nicht nach Hause gekommen war. Ihre Mutter hatte für das Abendessen den Tisch nur für zwei Personen gedeckt, und auf Sandras Frage nach ihrem Vater hatte sie ihr kurz erklärt, dass er hätte verreisen müssen. Sandra hatte ihn nie wiedergesehen. Zehn Jahre später kam eine Nachricht aus Australien, dass er gestorben sei.
Pierre, das begriff sie jetzt, war wie der Vater, der zurückgekommen war, um ihr zu bedeuten, dass sie begehrenswert war, dass ein Mann sie lieben konnte. Plötzlich war es nicht mehr so wichtig zu wissen, ob und vor allem warum Pierres Ehe in einer Krise gesteckt hatte. Wichtig war, dass er zu seiner Frau und seinen Kindern zurückgekommen war.
Sandra wollte sich gerade umwenden und das Restaurant verlassen, als Pierre aufsah und ihre Blicke sich trafen. Einen Augenblick war alles möglich: Dass er aufsprang, um zu ihr zu gehen und sie in die Arme zu nehmen, oder dass er im Gegenteil hastig den Blick abwenden und so tun würde, als erkenne er sie nicht.
Nichts von beidem geschah. Er lächelte ihr zu, und in seinem Blick lag die Bitte um Verzeihung und Verstehen. Aber auch die Erinnerung an das,was sie miteinander geteilt hatten, an ihre Liebe und den Schmerz seiner Entscheidung.
Sie konnte nicht anders, sie lächelte zurück, nickte ihm noch einmal zu und trat dann auf die Strasse. Ihr Herz war wunderbar leicht. Alles hatte seinen Platz gefunden, wie die Teile eines Puzzles. Sie würde sich immer an Pierre erinnern, aber sie wusste, dass die Erinnerung sie nicht mehr quälen würde …
Vor ihrem Hotel stand eine dunkle Gestalt, die sich jetzt von der Mauer löste und ihr langsam entgegenkam.
”Martin, wo kommst du denn her?” fragte sie, während eine jähe Freude sie erfüllte.
Er sah sie forschend an: “Störe ich dich?”
”Im Gegenteil, es war eine wundervolle Idee, zu kommen. Wohnst du hier im Hotel?” Sie dachte, dass sie gut daran getan hatte, ihm die Adresse ihres Hotels zu geben.
”Es wäre schon ein Zimmer frei, aber ich wollte dich natürlich erst fragen, ob es dir recht ist, wenn ich auch hier wohne. Und übermorgen könnten wir dann gemeinsam zurück nach Bremen fliegen, ich habe noch einen Platz bekommen.”
”Ich freue mich darauf, mit dir zurückzufliegen. Lass es uns jetzt nur schnell das Zimmer reservieren. Hast du schon zu Abend gegessen?”
”Nein, und du?”
”Ich auch nicht. Und ich habe auf einmal einen einen gewaltigen Hunger!” Sie konnte wieder lachen.
Er lachte nun ebenfalls und reckte sich: “Ich auch. Im Flugzeug habe ich keinen Bissen hinunterbekommen.”
Sie hakte sich bei ihm unter: “Erst das Zimmer, dann willst du dich vielleicht etwas frisch machen? Und dann suchen wir uns ein schönes Restaurant.” Nachdenklich fügte sie hinzu: “Ach Martin, ich habe dir so viel zu erzählen …”
Als sie eine viertel Stunde später die Treppe hinunterkam, wartete er schon in der Halle auf sie. Er stand da mit seinen breiten Schultern, seinem Dreitagebart und dem warmen Lächeln. Aus seinen Augen sprach so viel Liebe zu ihr, und an dem heissen Glücksgefühl, das sie durchströmte, merkte sie, dass sie Martins Liebe endlich erwidern konnte …
ENDE

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