Wissensessenz No.25 – Warum wir den gesunden Menschenverstand brauchen?

18.05.14 - 1

Führungskräfte, die dem gesunden Menschenverstand vertrauen, unterscheiden sich von anderen, die vorwiegend auf antrainierte Managementmethoden setzen, vor allem darin, dass sie ihre Arbeit um das entscheidende Maß „persönlicher” nehmen, intuitiv handeln und niemals mittelmäßig sind. Arbeit und Leben gehören für sie zusammen.

In einer unübersichtlichen Zeit und offenen Gesellschaft, in der vieles aus den Fugen gerät, wo Chancen vergeben werden, sich auch abzugrenzen, um das Eigentümliche und Eigensinnige zu bewahren – in einer solchen Zeit ist eine Rückbesinnung auf den gesunden Menschenverstand, der direkt zu Herz und Sinn spricht, nötig und nützlich. „Gesund” steht hier für „natürlich” im Sinne von „intuitiv, emotional” – mit Verstand (von „verstehen” von althochdeutsch „firstȃn”, im Sinne von „dicht davor stehen”), der hilft, Dinge zu erkennen und zu begreifen.

Es braucht einen Maßstab, um den eigenen Kurs im Leben festzulegen, der hilft, die eigene Existenz neu auszurichten. Viele versprechen Orientierung, aber niemand kann sie geben, weil sie nur von innen kommen kann – genauso wie Motivation, soziales Gewissen und Menschlichkeit. Der gesunde Menschenverstand hilft, mit den Anforderungen moderner Führung besser umzugehen. Damit verbunden ist auch die Erkenntnis, dass Informationen kein Machtinstrument und Statussymbol mehr sind, um einen Platz in der Hierarchie zu sichern oder zu erhalten. Charakter und Persönlichkeit sind heute wichtiger als Wissen. Beides ist aber nur zu haben, wenn der Instinkt dafür nicht verlorengeht, was richtig ist. Wer sich auf sein Inneres verlässt, ist auch in der Lage, das Richtige zu tun.

Das „Innerste” ist das Herz, weil es das Zentrum der Gefühle ist, wo Leben und Liebe ihren Anfang nehmen. Schon in der Bibel heißt es in 1. Samuel 16, 7: „Denn nicht sieht der Herr auf das, worauf ein Mensch sieht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.” Literarische Unsterblichkeit erlangte der berühmte Satz von Antoine de Saint-Exupéry, dem Autor des Kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.”

Es ist für die Augen nicht zu sehen, aber es ist spürbar, es geht uns an – es ist der „Stoff”, aus dem das Leben ist. Der Begriff „gesunder Menschenverstand” geht wie „Gemeinsinn”, die französischen Pendants „bon sens” und „sens commun” sowie der englische „common sense” auf den lateinischen Terminus‚ „sensus communis” zurück. Er ist eine Übersetzung des von Aristoteles geprägten Begriffs „koine aisthesis” – ein innerer Sinn mit Sitz im Herzen, der die verschiedenen Informationen der Einzelsinne zusammenfasst und beurteilt.

Kann jemand eine gute Führungskraft sein, wenn er kein großes Herz hat? Wenn ihm die Gabe fehlt, es „sprechen” zu lassen, es in seine Gestaltungen einzuschließen? Wohl kaum. Großes hinterlassen können nur Menschen mit einer intensiven Hingabe – an Menschen, ihre Gedanken, an das, was sie tun und an ihre Vision. Sie sind intuitiv und dennoch inspiriert. Ohne es zu wissen, schreibt Jay Elliot über Steve Jobs, befolgte der Apple-Gründer den Rat Einsteins: „Folge dem Mysteriösen.” Auch in Bewerbungsgesprächen waren ihm Talent, Leidenschaft und Spürsinn wichtiger waren als die Tatsache, dass Technologie in der bisherigen Arbeit der Bewerber kein Schwerpunkt gewesen war.

„Ich wundere mich oft und bin auch oft bestürzt, wie wenig Menschen im täglichen Leben ihren gesunden Menschenverstand einsetzen. Vielleicht kommt das daher, dass wir schon viel zu sehr ans ‚Folgen’ gewöhnt sind und nicht mehr selbst die Richtung bestimmen (wollen und/oder können). Sicherlich ist es nicht leicht, manche Entscheidungen zu treffen. Aber es gibt doch eigentlich fast immer die Möglichkeit, einmal ‚eine Nacht darüber zu schlafen’ und dann Bauch, Herz und Verstand gemeinsam entscheiden zu lassen. Aus diesem Grund wundern mich viele Diskussionen nicht, die wir täglich führen oder die geführt werden – beispielsweise in der Politik oder auch zu gesellschaftlichen Themen”, sagt Claudia Silber, Leiterin Unternehmenskommunikation bei der memo AG in Greußenheim.

In der Moralphilosophie des deutschen Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant spielt der gesunde Menschenverstand eine wichtige Rolle, denn in Fragen der Moral urteile dieser oft richtiger als die Wissenschaft. Ihn zu besitzen sei ein Geschenk des Himmels. Kant formuliert drei Maximen für den erfolgreichen Gebrauch des gesunden Menschenverstands:

1. „Selbstdenken”
2. „An der Stelle jedes andern denken”
3. „Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken”

Es ist kein Zufall, dass heute vor allem Bücher wie „Selbstdenken. Eine Anleitung zum Widerstand” (2013) von Harald Welzer den Nerv unserer Zeit treffen. Sie sind eine großartige Unterstützung, mehr auf den gesunden Menschenverstand zu bauen, um innerlich stabil zu bleiben und auf „echte” Persönlichkeiten zu setzen, bei der Sein und Tun wie zwei Muschelschalen aneinander gelötet sind. Diese Menschen fallen heute vor allem deshalb auf, weil es so wenige von ihnen gibt.

Ein aktuelles Beispiel für das Gegenteil findet sich im Beitrag „Mit durchgedrücktem Kreuz” (DIE ZEIT, 12.6.2014), in dem der Teammanager der deutschen Nationalmannschaft Oliver Bierhoff porträtiert wird. Es heißt darin, dass er nicht zu durchschauen ist, zum Greifen nah wirkt und doch so fern ist. Und er sich oft fragt, warum anderen die Sympathien einfach zufliegen und er sich immer wieder neu „beweisen” muss. In diesem Wort liegt schon die erste Schwierigkeit: der eigene Druck, gefallen zu müssen, einem Muster zu entsprechen. Bierhoff betont, dass er lange braucht, um vom „Managertypus” zum „Menschen” umzuschalten. Das ist die Bruchstelle: Menschen spüren, wenn jemand nicht 1:1 ist und zeigen das auch. Mediengeschulte glatte „Managertypen”, die sich möglichst nicht in rhetorische Gefahrenzonen begeben, werden in einer Gesellschaft, die sich selbst immer wieder erneuern muss, um zukunftsfähig zu sein, nicht gebraucht. Nur „echte” Menschen sind in der Lage, sich selbst und andere zu bewegen.


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