Bei den derzeitig sehr zahlreichen Veranstaltungen zum Verhältnis der Wissenschaften zum Nationalsozialismus wird meines Erachtens, gerade wenn diese Veranstaltungen im akademischen Rahmen stattfinden, zu viel Wert darauf gelegt, einerseits nach inhaltlichen Kontinuitäten zu suchen, andererseits die Kooperation der Wissenschaften mit dem Nationalsozialismus zu sehr an einzelnen Biographien festzumachen. Die persönliche Motivation – und damit zugleich: die moralische Verantwortung – Einzelner wird untersucht, das Maß der individuellen Verstrickung wohl ausdifferenziert. Was unausgesprochen bleibt, was sehr offensichtlich verdeckt wird, sind die strukturellen Probleme des akademischen Wissenschaftsbetriebs.
Es ist kein Wunder, dass diese im akademischen Diskurs selbst nicht oder kaum thematisiert werden können – denn schließlich würden sie ein ganz anderes Licht auf die sicherlich traurige Verstrickung selbst „reiner“ Disziplinen wie der Philosophie werfen, würde diese nicht als Werk einzelner, moralisch versagender Gelehrter aufgedeckt, sondern als im System der Akademie selbst angelegt. Um die Legitimität des akademischen Betriebs selbst nicht zu gefährden, um einen harten Bruch von „normalem“ und „faschistischem“ Uni-Betrieb zu garantieren, werden solche Fragen notwendig ausgeklammert.
So wundert man sich beispielsweise darüber, dass Studierende nach dem 2. Weltkrieg ihre Dozenten nicht auf ihre Nazi-Verstrickungen ansprachen. Axel Honneth sprach z.B. bei einer Vortragsveranstaltung zum Thema „Philosophie im Nationalsozialismus“ von seltsamen „psychologischen Mechanismen“, die er selbst nicht so recht begreifen könne. Solche Sprechweisen implizieren fast zwingend, dass hier etwas Unbehagliches ausgeklammert werden soll – denn zur Erklärung dieses wundersamen Phänomens müsste man sich einfach nur mal die Verhältnisse an der Universität heute anschauen. Die personelle Abhängigkeit von Dozenten und Studierenden, die bisweilen hochgradig emotional aufgeladen ist, wenn die Dozenten bewundert oder als Vorbilder gesetzt werden, aber auch auf ganz triviale materielle Interessen zurückgeht, verhindert es an der Akademie einfach strukturell, dass Studierende offen Kritik gegenüber ihren Dozenten üben können. Jeder Student weiß, wie schwer es ist, selbst sachliche Kritik an dem inhaltlichen Standpunkt ihres Dozenten anzuführen – persönliche Kritik zu üben ist völlig undenkbar. Uniseminare sind keine Lesekreise. Gerade Hilfskräfte, Mitarbeiter oder Doktoranden, die sich bisweilen mit ihren Dozenten auch privat recht gut verstehen, würden einen Teufel tun, ihre privilegierte Position, die doch Aussichten auf künftige Karrierechancen eröffnet, durch das Anschneiden unliebsamer Themen im persönlichen Gespräch zu gefährden.
Die „offene Diskussionskultur“ an der Uni ist eben Ideologie. Unliebsame Diskutanten werden einfach nicht Wort genommen oder mit bisweilem autoritärem Tonfall zu Recht gewiesen. Dies zeigt sich schon darin, dass man eigentlich nicht das Recht hat, in Diskussionen eigene Thesen vorzutragen – man muss „Fragen stellen“.
Doch der entscheidende Faktor ist die in der kapitalistischen Gesellschaft notwendige Verknüpfung gerade der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung einerseits, der Geisteswissenschaften andererseits mit dem Staat als Geldgeber und Regulator. Diese Wissenschaften könnten, der Kontrolle des Marktes unterworfen, kaum autonom bestehen. Ihre Förderung und Verwaltung ist dem Staat anheimgegeben. Dieser wacht wiederum, egal unter welchem Regime, sorgsam darüber, dass eine bestimmte „Toleranzgrenze“ nicht überschritten wird – kritische Dozenten kriegen keine Lehraufträge und erst keine Professuren, bestimmte Seminarthemen werden nicht zugelassen etc.pp. Die grundgesetzlich verbriefte „Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre“ ist so, wie im Grunde jeder weiß, eigentlich Makulatur. Die „Toleranzgrenze“ ist mal weiter, mal enger: bestimmte Tabus dürfen nicht angetastet werden. Erfolgen keine starken staatlichen Eingriffe ins wissenschaftliche Feld, ist die „scientific community“ selbst ihr bester Regulator. Am besten, indem unliebsame theoretische Konzepte einfach nicht diskutiert werden. Auf „Argumente“ kommt es da i.d.R. garnicht so sehr an.
Skandalisiert wird dieser Umstand von bürgerlicher Seite nur, wenn diese Toleranzgrenze stark eingeschränkt wird – dass der Staat die Wissenschaft generell kontrolliert, bleibt unhinterfragt. „Opportunismus“ ist so im Grunde die normale Geisteshaltung eines Akademikers, der nicht einmal böse Absichten verfolgt, sondern einfach nur materiell überleben will. Leute wie Heidegger haben z.B. biographisch erfahren, wie schwierig es ist, als Philosophieabsolvent materiell zu überleben, wenn man keinen Job an der Uni hat. Kein Wunder, dass sie sich ihre einmal hart erkämpften Pfründe nicht durch Dissidenz zunichte machen wollten. Selbst kritische Geister wie Adorno hofften in der Anfangsphase des NS noch, diesen einigermaßen unbeschadet überwintern zu können.
Das heißt nicht, dass es nicht echte ideologische Kontinuitäten und Überschneidungen gab. Doch viele Gelehrtenbiographien zeigen, wie leicht diesen Staatsbediensteten eine ideologische „Kehre“ oft fiel: gestern noch SS-Kulturoffizier, heute führender linksliberaler Professor in der Bundesrepublik – das ist keine Seltenheit, sondern eher der Normalfall. Schließlich hängt der Staat selbst von bestimmten „Funktionseliten“ ab, die nicht ohne weiteres ausgetauscht werden können – solange jemand einen glaubwürdigen ideologischen Bruch vollzieht, spielt da die vergangene politische Gesinnung kaum eine Rolle. Sowieso nicht bei (vermeintlich) ideologisch neutralen Wissenschaften wie der Medizin oder Physik, aber eben auch bei ideologisch „harten“ wie der Germanistik1 oder der Philosophie.
Auf der Ebene der moralischen Beurteilung des Verhaltens Einzelner lassen sich sicherlich Differenzierungen anstellen. Es macht einen Unterschied, ob sich jemand einem demokratischen oder einem faschistischem Staat andient. Die Wissenschaftler haben dabei keinesfalls nur in Worten ihren Beitrag zum NS geliefert, sondern – damit untrennbar verbunden – auch tätlich zum Gelingen dieser Herrschaft beigetragen. Doch wie gesagt: es gehört einfach nicht um Habitus eines akademischen Gelehrten, Widerstand gegen seinen Arbeitgeber zu leisten. Es wird z.B. über den verdienstvollen bürgerlichen Philosophen Nicolai Hartmann, der den NS tatsächlich „überwinterte“, nahezu ohne sich ideologisch zu kompromitieren, erzählt, er habe tatenlos mit angesehen, wie während einer seiner Vorlesungen eine jüdische Studentin von Nazi-Studenten aus der Vorlesung gezerrt wurde. Eine traurige Episode: doch es ist eben ideologisch, sie als individuelles Versagen Hartmanns zu betrachten – sie sagt etwas über den Habitus des deutschen Professoren an sich aus. Er ist ein Mann der Wissenschaft, der sich gegenüber der Tagespolitik, selbst wenn sie sich auf seinen eigenen „Machtbereich“ erstreckt, neutral zu bleiben hat. Welcher heutige deutsche Akademiker würde sich nicht genauso wie Hartmann verhalten (bzw. verhält sich realiter genau so)?
Doch die Kritik muss sich auch auf die deutschen Studierenden erstrecken. Es wird meist ausgeklammert, dass gerade diese die Haupttriebkraft in der Selbstgleichschaltung der deutschen Universitäten waren – die Hartmann-Episode diene hier für als Beispiel. Vor dem Hintergrund der Barbarei dieser Studentenbewegung wird die Skepsis Adornos und Horkheimers gegenüber den 68ern sicherlich verständlicher – so inhaltlich verschieden beide Bewegungen auch waren. Doch es gilt immer: die Studierenden wollen einen Vatermord an ihrer Vorgängergeneration vollziehen – sie wollen selbst dorthin, wo ihre Dozenten und Professoren sind. Dies mag ein sehr handfestes, wenn auch – natürlich – uneingestandenes Motiv sein, mehr Geld für Lehre und Forschung, Entnazifizierung oder völkische „Reinheit“ der deutschen Hochschulen zu fordern. Als Nachwuchselite sind sie dabei natürlich immer besonders radikal, versuchen die progressivsten Strömungen ihrer Zeit vorwegzunehmen: egal in welche Richtung. Denn sie wissen genau: ihr persönliches Fortkommen wird nicht zuletzt von den politischen Kräfteverhältnissen abhängen und inwiefern sie selbst auf das richtige Pferd gesetzt haben. (Was nicht heißt, dass diese vllt doch etwas harsche Kritik auf ALLE Studierende heute oder damals zutreffen würde.Womöglich noch nicht einmal auf die Mehrheit.)
Natürlich ist es um die Autonomie der Wissenschaften keinesfalls besser sondern, innerhalb demokratischer Staaten sogar eher schlechter bestellt, wenn sie sich nicht vom Staat sondern von anderen Institutionen finanzieren und damit kontrollieren lassen. Das Ideal von wirklich autonomer Wissenschaft wäre eben unter diesen Verhältnissen nur bei vollständiger finanzieller Autonomie zu erreichen („Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“) – verwirklicht sicherlich bei Privatgelehrten wie Kierkegaard, Feuerbach, Schopenhauer oder Nietzsche – und natürlich Marx und Engels und Teilen der Frankfurter Schule – auch Jean-Paul Satre und Simone de Beauvoir (wobei jene nicht völlig autonom waren, sondern auf den Markt angewiesen blieben – immerhin war Sartre autonom genug, den Nobelpreis ablehnen zu können – welcher heutige Schriftsteller könnte sich dies leisten?); durchweg innovative und teilweise emanzipatorisch wirksame Köpfe, von deren Wirken heute der akademische Betrieb noch zehrt. Doch hier wirken wiederum die mangelnden finanziellen Möglichkeiten und die intellektuelle Isolation hemmend. Einem Privatier stehen schließlich keine – unter günstigen Umständen – auch mal kritische Studierende und Kollegen und ein Apparat von Hilfskräften zur Seite (von den Möglichkeiten zu empirischer Forschung und den ungleich leichteren Publikationsmöglichkeiten ganz zu schweigen).
Generell ist es im Grunde ein historisch relativ neues Phänomen, insbesondere was die Philosophie betrifft, dass diese sich fast nur an der Akademie abspielt bzw. abspielen soll. Die bürgerliche wie die antike Aufklärung war – naturgemäß – nicht staatlich oder sonstwie institutionell organisiert, sondern ging von Privatleuten aus, die die Wissenschaft eher als Hobby betrieben (bzw. als ideologische Waffe gegen die feudale Ordnung). Man wird unschwer zugestehen, dass die Verstaatlichung der Philosophie im Verlauf des 19. und 20. Jh.’s dieser keineswegs zu Gute kam, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. Für die Kunst gilt wohl ähnliches … Die Uni ist ihrer gesellschaftlichen Funktion nach kein Ort des Denkens, sondern der Ideologie (Ausnahmen bestätigen die Regel). Reflexion wird in ihr strukturell aus Pflicht, zum Broterwerb, nicht aus Vergnügen, Wahrheits- und Sinnsuche oder anderen persönlichen Motiven heraus betrieben und ist somit ihrem Wesen entfremdet, wird zum uninspirierten Selbstzweck. An diesem Punkt angelangt könnte ich seitenlang weiterschreiben, doch ich will es erst einmal hierbei belassen …
- Insbesondere die Geschichte der Germanistik im NS ist besonders unrühmlich – man denke etwa an die aktive Beteiligung führender Germanisten an den Bücherverbrennungen (unter begeistertem Mittun der Studierendenschaft). Doch auch ist eine moralische Verurteilung Einzelner naiv – wer soll schließlich sonst Büchverbrennungen organisieren als die vom Staat extra zur Ordnung des Literaturkanons ausgebildeten Spezialisten? [zurück]