22.12.2011 – Passend zur Jahreszeit lächelt uns in diesen Tagen aus vielen Zeitungen und Zeitschriften ein junger Mann in Arbeiterpose entgegen und freut sich darüber, dass in Deutschland so viele Menschen in Arbeit sind, wie nie zuvor.
Mit der Anzeigenaktion stellt sich die Bundesregierung zum Jahreswechsel selber ein gutes Zeugnis aus und bedankt sich gönnerhaft bei ganz Deutschland.
Wer sich hiervon nicht angesprochen fühlt, weil er arm oder von Armut bedroht ist, trotz aller Anstrengungen keinen existenzsichernden Arbeitsplatz findet oder aufgrund statistischer Winkelzüge nicht in der bundesdeutschen Erfolgsbilanz auftaucht, der hat sich nicht genug angestrengt. So zumindest liest sich die steuerfinanzierte Kampagne des Bundeswirtschaftsministeriums.
Danke, Deutschland.
„Deutschland geht es so gut wie lange nicht“. Mit diesen Worten verabschiedete sich Angela Merkel am 22.7.2011 in die parlamentarische Sommerpause. Was die Kanzlerin auf der Bundespressekonferenz so selbstbewusst feststellt, deckt sich kaum mit der Wahrnehmung und Lebenswirklichkeit großer Teile der Bevölkerung.
Doch darauf kommt es in der Politik nicht an: Wenn man nur lange genug betont, dass alles wunderbar ist, wird es irgendwann auch geglaubt. Und jeder der bekennt, dass es ihm eigentlich gar nicht so gut geht, bleibt als Versager zurück. Er hat den Anschluss an unsere Erfolgs- und Leistungsgesellschaft verpasst. Und weil die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen so glänzend sind, muss er die Schuld daran wohl selber tragen.
Ein halbes Jahr später, diesmal steht das Parlament vor der Weihnachtspause, kommen Eigenlob und Erfolgsappell aus dem Bundesministerium für Wirtschaft. Den emotionalen Faktor erledigt dabei das eigentliche Kampagnenmotiv mit viel Bild und wenig Text.
Auf seiner Internetseite vertieft der Wirtschaftsminister seine Botschaft. Hier kann man unter anderem nachlesen:
„Deutschland steht heute robust da. Das ist das Verdienst der Wirtschaft und damit der vielen Unternehmerinnen und Unternehmer und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jeden Tag aufs Neue Höchstleistungen bringen.“
Hier zeigt sich, bei wem sich die Politik mit ihrer teuren Anzeigenkampagne vor allem bedanken möchte: Bei der „Wirtschaft“. Und warum geht es der Wirtschaft so gut? „Weil wir unsere Politik an den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft ausrichten“. Aus dem missverständlichen „Danke, Deutschland“ wird also bei näherer Betrachtung ein dickes Dankeschön bei sich selber.
Und weiter heißt es beim Bundeswirtschaftsministerium:
„Der Arbeitsmarkt läuft auf Hochtouren. Über 41 Millionen Menschen haben einen festen Arbeitsplatz – das sind so viele wie nie zuvor. Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordtief: Mit 6,4 Prozent liegt die Arbeitslosenquote so niedrig wie zuletzt vor 20 Jahren.“
Dass die offizielle Arbeitslosenquote unter anderem deshalb so niedrig ist, weil Unbeschäftigte ab 58 Jahren in der Statistik, ebenso wie Menschen in sinnlosen Maßnahmen der Arbeitsagenturen, einfach nicht mitgezählt werden, verschweigt der Minister. Auch auf die Qualität der neu entstanden Jobs wird nicht eingegangen. Ob Niedrig- und Hungerlohn, Zeitarbeit oder Befristung: Für den Wirtschaftsminister und die Regierung ist jedes prekäre Arbeitsverhältnis ein „fester Arbeitsplatz“.
Und wer sich jetzt noch fragt, warum er trotz Wirtschaftswunder, niedriger Arbeitslosigkeit und glänzender Aussichten nicht weiß, wie er seine Miete, seine Nahrung, seine Kleidung oder seine gesellschaftliche Teilhabe bezahlen soll, der erfährt beim Wirtschaftsministerium Folgendes:
„Die Arbeitnehmer haben spürbar mehr Geld in der Tasche. Um 3,2 Prozent sind die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte 2011 gestiegen.“
Im Ergebnis: „Deutschland steht robust da“, der „Wirtschaft geht es gut“, fast jeder hat einen „festen Arbeitsplatz“ und zudem haben wir alle auch noch deutlich mehr „Geld in der Tasche“.
Soweit die positive Sicht derjenigen, die für die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Deutschland verantwortlich sind. Und wie beurteilen Experten außerhalb des Politikbetriebes die Lage der Nation?
Reichtum enttabuisieren
Im Juli diesen Jahres erschien der Bericht der UN zur sozialen Lage in Deutschland. Hier zeigt man sich besorgt darüber, dass mittlerweile 13 Prozent der Deutschen unterhalb der Armutsgrenze leben, dass 1,3 Millionen Menschen auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, obwohl sie einer Arbeit nachgehen und dass in Deutschland 2,5 Millionen Kinder in Armut leben.
Ebenfalls im Sommer 2011 stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fest, dass die preisbereinigten Nettogehälter der drei untersten Einkommensstufen in Deutschland zwischen 2000 und 2010 um 16 bis 22 Prozent gesunken sind. Das Institut spricht in diesem Zusammenhang von „Auswüchsen, die man beschäftigungspolitisch nicht rechtfertigen kann“.
Anfang September fordern 3.100 Fachleute im Rahmen eines arbeitsmarktpolitischen Appells die Bundesregierung zum Kurswechsel auf und warnt eindringlich vor einem „Zwei-Klassen-Arbeitsmarkt“. Hier heißt es unter anderem:
„Was wir aktuell erleben ist eine Zwei-Klassen-Arbeitsmarktpolitik, die den langfristigen Zusammenhalt dieser Gesellschaft zunehmend aus den Augen verliert. Auf der Strecke bleiben dabei Langzeitarbeitslose und schwer Vermittelbare, darunter viele Menschen ohne Ausbildung, Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen, ältere Arbeitslose oder ohnehin benachteiligte Jugendliche.“
Anfang Dezember veröffentlicht der OECD seine Studie „Devided we stand“, die zu dem Schluss kommt, dass de Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland seit 1990 deutlich stärker gewachsen ist, als in den meisten anderen OECD Ländern und widerlegt damit die weit verbreitete Annahme, dass Wirtschaftswachstum automatisch allen Gruppen innerhalb der Gesellschaft gleichermaßen zugute kommt.
Der OECD Generalsekretär Angel Gurria warnt davor, dass zunehmende Ungleichheit nicht nur die Wirtschaftskraft eines Landes schwächt sondern auch den sozialen Zusammenhalt gefährdet und politische Instabilität schafft.
Gestern hat der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Armutsbericht 2011 vorgelegt, in dem er vor einer Verfestigung der Armut auf Rekordniveau warnt, die Sozialpolitik der Bundesregierung kritisiert und eine rigorose armutspolitische Kehrtwende fordert.
Der Paritätische Armutsbericht kommt zu dem Ergebnis, dass rund 12 Millionen Menschen in Deutschland akut von Armut bedroht sind oder bereits in Armut leben. Dies entspricht 14,5 Prozent der Bevölkerung. Der Wohlfahrtsverband macht darauf aufmerksam, dass die Armut in Deutschland auch in den Jahren mit starkem Wirtschaftswachstum (2006, 2007, 2010) nicht zurückgegangen ist.
Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider verlangt, „den Reichtum in Deutschland zu enttabuisieren“ und erwartet von der Regierung, nicht länger vor der Verteilungsfrage zurückzuschrecken. Konkret fordert der Verband eine Erhöhung der Regelsätze in Hartz IV, den Ausbau des öffentlichen Beschäftigungssektors, die Sicherung von Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen und eine Vorbeugung gegen die drohende Altersarmut.
Heute meldet das statistische Bundesamt in Wiesbaden, dass die Reallöhne in Deutschland im dritten Quartal 2011 nur noch um 0,6 Prozent gestiegen sind. Dies ist der geringste Anstieg seit dem vierten Quartal 2009. Zwar stiegen die Nominallöhne in diesem Zeitraum um 3,0 Prozent. Allerdings erhöhten sich die Verbraucherpreise im selben Zeitabschnitt um 2,5 Prozent.
Danke, Bundesregierung.
Ob Presseerklärung der Kanzlerin, Anzeigenkampagnen des Wirtschaftsministers oder monatliche Erfolgsmeldungen aus dem Arbeitsministerium: Die Bundesregierung versäumt keine Gelegenheit, die glänzenden Wirtschafts- und Arbeitsaussichten in Deutschland in höchsten Tönen zu loben und damit vor allem sich selber anerkennend auf die Schulter zu klopfen.
Während Wirtschafts- und Lobbyverbände, private Stiftungen, „unabhängige“ Institute und die deutschen Qualitätsmedien in die allgemeinen Lobeshymnen einstimmen und sich gegenseitig zu ihren Leistungen beglückwünschen, muss man Studien und Berichte über die tatsächlichen Verhältnisse in unserem Land mit der Lupe suchen.
Das penetrante Übertönen kritischer Äußerungen und seriöser Untersuchungen durch geschliffene Werbephrasen und geschönte Berichte der Politik erinnert dabei an das laute Singen im nächtlichen Wald, mit dem man die Angst vor der Dunkelheit überwinden will.
Die Dunkelheit in diesem Bild steht für die Furcht von Politik und Wirtschaft vor all den Menschen, die keine Statistik und keine Untersuchung brauchen, um zu genau wissen, dass sie in elenden, bedrückenden und unwürdigen Verhältnissen leben.
Das größte Risiko für das System besteht darin, dass Arbeitslose, gering und prekär Beschäftigte, Rentner und alle anderen, die durch die stetig größer werdenden Maschen des sozialen Netzes fallen, begreifen, dass sie die Schuld an ihren Lebensumständen nicht selber tragen. Wenn sie erst damit aufgehört haben, sich gegenseitig mit Argwohn zu betrachten und sich stattdessen solidarisch miteinander verbinden, dann wird es für die Herrschenden, Mächtigen und Reichen finster.
Und je größer die Furcht wird, desto lauter fallen Erfolgsmeldungen und Durchhalte-Kampagnen auf Staatskosten aus. Danke, Bundesregierung.