Für diesen Wireless Talk habe ich mich mit Justin unterhalten, der derzeit in Moskau lebt. Die russische Hauptstadt ist nicht unbedingt als Hochburg für digitale Nomaden bekannt, hat aber viel zu bieten. Justin berichtet von seinem schwierigen Start und dem Weg hin zum ortsunabhängigen Arbeiten.
In den Wireless Talks spreche ich mit inspirierenden Menschen, die ihre ganz persönliche Geschichte erzählen. Menschen wie du und ich, die den Mut hatten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und nach mehr Selbstbestimmung und Freiheit zu suchen. Sie arbeiten ortsunabhängig, leben nach ihren eigenen Vorstellungen und sind Inspiration für den Rest von uns.
Vor einigen Jahren hat es Justin nach Moskau verschlagen. Heute ist er selbständig und verdient sein Einkommen ortsunabhängig. Der Weg dorthin war aber alles andere als geradlinig.
Wie Justin sich aus der Abhängigkeit von Jobsuche und Arbeitgebern befreit hat und warum Moskau gerade im Moment eine Reise wert ist, das erzählt er uns in diesem Wireless Talk.
Hallo Justin, kannst du uns kurz etwas über dich erzählen? Wer bist du und wie hat es dich nach Moskau verschlagen?
Hallo Sebastian, ich bin Justin aus Berlin. Aktuell lebe ich in Moskau und baue mir und meiner Familie ein ortsunabhängiges Leben auf. Wie es dazu gekommen ist, ist in der Tat eine interessante Geschichte.
Im Frühsommer 2012 hat mich die russische Frau meines besten Kumpels mit meiner Frau bekannt gemacht. Da sie zu dem Zeitpunkt schon ziemlich fest im Leben stand (Sohn und Großmutter in Moskau + gerade eine Eigentumswohnung auf Kredit gekauft), entschieden wir uns, fürs erste in Moskau zu leben.
Ich war zu dem Zeitpunkt im dritten Lehrjahr als Baustoffprüfer und voller Euphorie, alles stehen und liegen zu lassen und mit meinem deutschen Abschluss den russischen Arbeitsmarkt aufzumischen. In Deutschland hatte ich so gut wie keine Bindungen, sodass ich mir diesen Schritt zutraute.
Justins Familie in Moskau
Wie schwierig war es, zu Beginn in Moskau Fuß zu fassen und sich auf die neue Umgebung einzustellen?
Ganz ehrlich, im Gegensatz zu Moskau ist Berlin ein Dorf. Inoffiziell leben im Großraum der russischen Hauptstadt 18 Millionen Menschen, die sich jeden Tag morgens zur und abends von der Arbeit durch die Stadt wälzen.
Am Anfang war natürlich alles sehr neu und spannend, doch mit der Zeit habe ich verlernt, die Stadt zu genießen. Das Leben ist furchtbar anstrengend, ein Arbeitsweg von 1,5 Stunden mit dem Bus gilt hier als kurz. Auch sind Behördengänge und Besorgungen hier aufgrund der längeren Wege, der Bürokratie und der unglaublichen Menschenmassen enorm zeitaufwändig.
Zudem war ich mit einer völlig falschen Einstellung an das Problem des Broterwerbs herangetreten. Ich war ganz naiv davon ausgegangen, dass mich eine beliebige russische Niederlassung einer deutschen Baufirma mit Kusshand nehmen würde. Die Realität war jedoch eine ganz andere.
Ein Jahr schlug ich mich mehr schlecht als recht mit befristeten Gelegenheitsprojekten durch, in dieser Zeit lebten wir hauptsächlich von den mageren Einkünften meiner Frau. Das hat uns aber geholfen, sparsam zu werden, wovon wir bis heute profitieren.
Was hat sich an dieser Situation bis heute geändert?
Als mir klar wurde, dass ich mit einem deutschen Facharbeiterbrief in einem in Russland gänzlich unbekannten Beruf keinen Blumentopf gewinnen konnte, entwarf ich panisch eine Geschäftsidee und scheiterte prompt.
Danach stellte ich jedoch fest, dass eine große Nachfrage an Übersetzern besteht. Meine Frau spricht faktisch nur russisch, so war ich mehr oder weniger gezwungen, die Sprache innerhalb eines Jahres fließend zu erlernen. Auf diesem Gebiet bot ich nun meine Dienste an, was mir einige ziemlich einträgliche Projekte bescherte.
Seit ziemlich genau einem Jahr verdiene ich neben meinem In-House-Job bei einem Berliner Lackhersteller einen Gutteil meines Einkommens als Freelancer im Internet. Seit diesem Monat bin ich zudem vollkommen ortsunabhängig, da ich seit dem 1. Februar im Home-Office arbeite. Das erlaubt mir, mich stärker auf meine eigenen Projekte zu konzentrieren, um mittelfristig aus dem zweiten Hamsterrad, der Freelancer-Tätigkeit, herauszukommen. Außerdem habe ich jetzt wieder mehr Zeit, diese großartige Stadt zu genießen.
Wie viel Geld braucht man in Moskau eigentlich zum Leben?
In der Anfangszeit war das Leben in Moskau nur minimal günstiger als in Berlin. Die Lebensmittelpreise waren weitestgehend gleich. Günstige Produkte sind meistens qualitativ so schlecht, dass man sie nicht guten Gewissens kaufen kann. Ein Beispiel: Einmal habe ich billige Würstchen gekauft, die nicht mal meine Katze angerührt hat.
Basilius-Kathedrale in Moskau
Was hier positiv zu Buche schlägt, sind Transportkosten. Ein 90-Minuten-Ticket für den Stadtverkehr kostet hier umgerechnet etwa 60 Cent, 2013 war es ein reichlicher Euro. Auch Benzin kostete kurz nach meinem Umzug etwa die Hälfte des deutschen Preises, jetzt bekomme ich einen Liter Normal schon für ca. 40 Cent.
Durch den Kursverfall des Rubels seit Beginn der Ukraine-Krise ist das Leben hier extrem billig geworden. Vorausgesetzt natürlich, dass man ein Einkommen in Euro hat. Bekam ich 2013 für einen Euro noch ca. 39 Rubel, sind es mittlerweile immerhin 75 Rubel mit steigender Tendenz. Interessant ist auch, dass die Preise selbst von importierten Elektronikgeräten, die früher teurer waren, als in Deutschland, nicht mit dem Kursverfall mithalten, sodass hier Technik momentan ca. 20% günstiger ist, als daheim.
Um unsere Lebenshaltungskosten mal ganz grob herunter zu brechen: Wir geben für 3 Personen, ein Auto und eine (mittlerweile abbezahlte) Wohnung pro Monat insgesamt ungefähr 400 Euro aus. So lässt es sich eigentlich ganz gut leben. Ich muss allerdings dazusagen, dass die Mietpreise (sofern man kein Wohneigentum kauft) eher auf deutschem Niveau rangieren, eine 1-Zimmer-Wohnung im Zentrum kann schon gut und gerne 500 € im Monat kosten.
Moskau ist ja nicht unbedingt als Hochburg für Kreative, Entrepreneure und digitale Nomaden bekannt. Gibt es trotzdem Möglichkeiten zum Netzwerken oder wie bleibst du mit Gleichgesinnten in Kontakt?
Es liegt wahrscheinlich an meinem eher introvertierten Naturell, dass ich mich nicht gerne mit vielen Menschen umgebe. Am kreativsten bin ich in meinen vier Wänden, deshalb habe ich ehrlich gesagt noch nie wirklich nach Co-Working-Spaces in Moskau recherchiert. Für den Kontakt mit Gleichgesinnten nutze ich hauptsächlich das Internet.
Allerdings gibt es in Moskau eine nicht gerade kleine Expat-Szene. Russische Firmen kaufen häufig für viel Geld ausländische Ingenieure und andere Fachkräfte ein und im Zentrum Moskaus tümmelt sich so eine ziemlich lebhafte englischsprachige Gemeinschaft.
Seit Beginn der Krise haben zwar viele Ausländer die Stadt wieder verlassen, viele bleiben dennoch hier. Ich habe hier außerdem ein ziemlich großes russischsprachiges Umfeld aus der Familie meiner Frau, halte aber auch Kontakt zu ehemaligen deutschen Kollegen, die immer wieder für Projekte herkommen.
Übrigens sind die Voraussetzungen für digitale Nomaden in Moskau meiner Meinung nach ideal. Es gibt ein flächendeckendes LTE-Netz, 100-Mbit-schnelles Internet und kostenfreies WLAN in der U-Bahn. Zudem ist durch den stetig fallenden Rubelkurs mittlerweile ein ziemlich hoher Lebensstandard zu verhältnismäßig geringen Kosten möglich.
Auch bekommt man mit relativ geringem Aufwand Jahres-Arbeitsvisa oder 3-Monats-Kettenvisa. Und die Moskauer Clubszene ist wirklich durch nichts zu überbieten. Besser feiert man nirgends auf der Welt.
Was würdest du sagen, waren deine größten Probleme und Learnings seit deinem Umzug nach Moskau? Und in welcher Form hat sich deine Denkweise geändert?
Mein allergrößtes Problem war in der Anfangszeit das Einkommen. Ich hatte im Vorfeld nur halbherzige Anstrengungen unternommen, eine Stelle zu finden, frei nach dem Motto „Das wird schon“. Ob das allerdings falsch war, kann ich jetzt nicht mehr eindeutig sagen. Schließlich hätte ich mit einer gutbezahlten Stelle keinen objektiven Grund gehabt, den Sprung in die Selbständigkeit zu wagen. Ich war gezwungen, eine alternative Einkommensquelle aufzutun, was auch gut geklappt hat.
Ein weiteres Problem stellt die russische Bürokratie dar. Wer glaubt, Deutschland wäre bürokratisch, der täuscht sich! Was ich hier schon von Pontius nach Pilatus gescheucht wurde, um meine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, ist schon nicht mehr normal. Auch war es ziemlich problematisch, die Eigentumsurkunde für unsere Wohnung zu bekommen. Alle halten die Hand auf und wenn man kein Schmiergeld zahlen will, braucht man einen langen Atem.
Die wichtigste Lektion, die ich gelernt habe, ist, dass man einfach anfangen muss. Ich hätte den Sprung in die Selbständigkeit wahrscheinlich nie gewagt, wäre ich nicht nach Moskau umgezogen. Ich war quasi gezwungen, ortsunabhängig zu werden. Der Umzug war sozusagen der Sprung ins kalte Wasser.
Außerdem stelle ich seit meinem Umzug sowohl das klassische Bildungssystem, als auch die klassische Arbeitswelt in Frage. Warum habe ich studiert und eine Ausbildung absolviert? Klar, aus beidem habe ich viel Wissen mitgenommen, was mir teilweise auch weiterhilft, aber alles für meine Arbeit nötige habe ich mir selbst angeeignet und lerne auch immer weiter. Jedes neue Projekt stellt neue Anforderungen an mein Wissen und Können, sodass ich mich stetig weiterentwickeln muss.
Zu guter Letzt, wo können unsere Leser mehr über dich und deine aktuellen Projekte erfahren?
Auf meinem Blog www.in-aller-welt.berlin kannst du meine Geschichte in allen Einzelheiten nachlesen und meine aktuellen Projekte verfolgen.
Im Sommer planen wir außerdem eine große Reise durch Europa mit dem Wohnwagen, über die ich natürlich auch auf meinem Blog berichten werde.
Vielen Dank für die inspirierende Geschichte!
Nachdem Justin mir von seinem Leben in Moskau erzählt hat, konnte ich viele Parallelen zu meiner Anfangszeit in Shanghai ziehen. Ähnlich wie Justin habe ich in meinem ersten Jahr der Selbständigkeit oft vergessen, diese tolle Stadt zu genießen. Aber das mag wohl der Preis für ein langfristig freieres Leben sein.
Wenn du dich für eine Reise nach Moskau interessierst oder mehr über Justin erfahren möchtest, dann schau auf seinem Blog vorbei oder lasse einen Kommentar hier.
Arbeitest du selbst ortsunabhängig und hast eine inspirierende Geschichte zu erzählen? Oder kennst du jemanden, der dich ganz besonders inspiriert hat? Dann freue ich mich über einen Kommentar oder eine E-Mail an sebastian@wirelesslife.de.
Lebe rastlos, zeitlos und grenzenlos