»Na klar, die Kinder heute sind viel brutaler«, stellte er wieder mal fest. »Auf den Pausenhöfen geht es zu wie im Krieg. Die Kinder machen sich heute alle gegenseitig fertig. Das gab es bei uns früher noch nicht«.
Dauernd liegt er mir mit solchen Weisheiten in den Ohren. Das geht mir auf die Nerven.
»Haste vergessen, wie es bei euch war?«, fragte ich ihn und fügte hinzu: »Hey, bei uns hättest du nicht Mäuschen sein dürfen. Wir waren richtige Schweine.«
Kinder waren immer erbarmungslos. Das ist eine der wenigen Konstanten in der Welt. Und dann dachte ich an Kirsten.
Sie zogen sie an den Haaren, rissen an ihrem Pullover, entwendeten ihr die Brille, warfen ihr Federmäppchen quer durchs Zimmer. Immer wenn unsere debile Lehrerin den Raum verließ, stürzten sie sich auf sie. Mit leisem Gebrüll. Bereit alles an Niedertracht zu geben, was in ihnen steckte. Sie heulte leise vor sich hin, hielt aus, muckte nie auf, wischte sich die Tränen von den Wangen. Ich habe das Mädchen keine drei Sätze sprechen hören - und das in vier Schuljahren. Das war nicht Mobbing, das war die systematische Zerstörung einer Kindheit. Jede freie Minute ohne Aufsicht der Lehrkraft, war nicht eine gewonnene Minute, wie bei uns anderen Kindern. Bei ihr war es eine weitere Zeiteinheit ihres Martyriums. Mir tut dieser Anblick heute noch in der Seele weh.
Kirsten stammte offenbar aus schwierigem Elternhaus. Sie war nicht sehr modisch angezogen. Die Brille war bieder. Die Haare strähnig. Einzelgängerin. Keine Schönheit. Aber wer ist das schon? Wenn man schöne Menschen näher kennenlernt, werden auch sie häufig hässlich. Nach vielen Jahren der Qual war sie plötzlich weg. Keiner wusste wohin. Sie erschien nicht mehr im Unterricht. Auch Nachfragen bei der Lehrerin halfen nichts. Ich denke noch oft an sie. Lebt sie noch? Leidet sie noch heute darunter?
Auch ich war so eine Bestie. Nur ein bisschen anders. Aber nicht besser. Ich war nämlich keiner der aktiven Schweine. Ich habe lediglich still teilgenommen. Wenn die Lehrerin wieder zu ihren Beruhigungspillen ins Lehrerzimmer lief, dann stieg auch für mich die Spannung. Es war, als sehe man dabei zu, wie einer Fliege langsam die Beine ausgerissen werden. Oder als ob man eine Maus rektal mit einem Strohhalm aufbläst. Wie lange macht sie es noch? Kann sie mit zwei Beinen fliegen oder mit zerrissenem Darm laufen? Kann sie mit einem Flügel gehen oder atmet sie noch, wenn es sie zerrissen hat? Die Grausamkeit, mit der sie über sie kamen, sie verspotteten und schlugen, ihr den Schwamm ins Gesicht drückten und sich ihre Tränen mit Resten von Kreide und Wischwasser mischten, erregte uns Kinder allesamt. Wir waren Schweine.
Ich stand nicht auf und gebot Einhalt. Wer war ich denn, mir das zuzutrauen? Am Ende hätten sie mir so zugesetzt. Dem Fettsack und Ausländerkind. Nee, dann lieber lauthals lachen, klatschen, Freude haben und das Mitleid, das auch in Kindern erblüht, mit aller Gewalt unterdücken. Mitläufer sein. Gewissenlos und ignorant. Hohn und Spott als Komplizenschaft. Sie hat es bestimmt verdient. Bestimmt. Ganz bestimmt. Aber der Zweifel blieb stiller Begleiter dieser Faszination des Quälens. Nur nicht weich werden und weiterhin lachen. Mein Vater hätte sich meiner geschämt. Wie schon sein Vater sich für ihn?
Das sollte ich dem Kerl mal erzählen, wenn er wieder von den heutigen Kindern spricht, als wären die das defekte Endglied in einer Kette ansonsten anständiger Generationen. Klar, Fäuste haben wir ihr nicht in den Magen gerammt. Wir waren brutaler. Haben ihr systematisch ihre Würde genommen. Die Kindheit. Die gute alte Zeit von damals. Sie war in ihrer Gegenwart auch ganz schön fies und dunkel. Es tut mir leid, Kirsten.
Wenn ich so zurückdenke, sehe ich mich dabei, wie ich mir den Schwamm, mit dem diese Miststücke des Mädchens Gesicht wischten, schnappe - und ihn den Peinigern ins Gesicht drücke, bis er ihnen zum Arsch wieder rauskommt. Das sind ganz sicher Phantasien auf Grundlage von Gewissensbissen. Und wer steckt mir den Schwamm in die Fresse? Ich sehe mich ferner in der Schulbank sitzen und Kreidereste von Stirn und Nase kratzen. Die Lehrerin kommt zurück ins Zimmer, sieht es, wie sie es bei Kirsten immer gesehen haben muss, und fährt ohne darauf einzugehen mit dem Unterricht fort. Lehrer waren damals auch schon gerne ignorante Ichlinge.
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Sie zogen sie an den Haaren, rissen an ihrem Pullover, entwendeten ihr die Brille, warfen ihr Federmäppchen quer durchs Zimmer. Immer wenn unsere debile Lehrerin den Raum verließ, stürzten sie sich auf sie. Mit leisem Gebrüll. Bereit alles an Niedertracht zu geben, was in ihnen steckte. Sie heulte leise vor sich hin, hielt aus, muckte nie auf, wischte sich die Tränen von den Wangen. Ich habe das Mädchen keine drei Sätze sprechen hören - und das in vier Schuljahren. Das war nicht Mobbing, das war die systematische Zerstörung einer Kindheit. Jede freie Minute ohne Aufsicht der Lehrkraft, war nicht eine gewonnene Minute, wie bei uns anderen Kindern. Bei ihr war es eine weitere Zeiteinheit ihres Martyriums. Mir tut dieser Anblick heute noch in der Seele weh.
Kirsten stammte offenbar aus schwierigem Elternhaus. Sie war nicht sehr modisch angezogen. Die Brille war bieder. Die Haare strähnig. Einzelgängerin. Keine Schönheit. Aber wer ist das schon? Wenn man schöne Menschen näher kennenlernt, werden auch sie häufig hässlich. Nach vielen Jahren der Qual war sie plötzlich weg. Keiner wusste wohin. Sie erschien nicht mehr im Unterricht. Auch Nachfragen bei der Lehrerin halfen nichts. Ich denke noch oft an sie. Lebt sie noch? Leidet sie noch heute darunter?
Auch ich war so eine Bestie. Nur ein bisschen anders. Aber nicht besser. Ich war nämlich keiner der aktiven Schweine. Ich habe lediglich still teilgenommen. Wenn die Lehrerin wieder zu ihren Beruhigungspillen ins Lehrerzimmer lief, dann stieg auch für mich die Spannung. Es war, als sehe man dabei zu, wie einer Fliege langsam die Beine ausgerissen werden. Oder als ob man eine Maus rektal mit einem Strohhalm aufbläst. Wie lange macht sie es noch? Kann sie mit zwei Beinen fliegen oder mit zerrissenem Darm laufen? Kann sie mit einem Flügel gehen oder atmet sie noch, wenn es sie zerrissen hat? Die Grausamkeit, mit der sie über sie kamen, sie verspotteten und schlugen, ihr den Schwamm ins Gesicht drückten und sich ihre Tränen mit Resten von Kreide und Wischwasser mischten, erregte uns Kinder allesamt. Wir waren Schweine.
Ich stand nicht auf und gebot Einhalt. Wer war ich denn, mir das zuzutrauen? Am Ende hätten sie mir so zugesetzt. Dem Fettsack und Ausländerkind. Nee, dann lieber lauthals lachen, klatschen, Freude haben und das Mitleid, das auch in Kindern erblüht, mit aller Gewalt unterdücken. Mitläufer sein. Gewissenlos und ignorant. Hohn und Spott als Komplizenschaft. Sie hat es bestimmt verdient. Bestimmt. Ganz bestimmt. Aber der Zweifel blieb stiller Begleiter dieser Faszination des Quälens. Nur nicht weich werden und weiterhin lachen. Mein Vater hätte sich meiner geschämt. Wie schon sein Vater sich für ihn?
Das sollte ich dem Kerl mal erzählen, wenn er wieder von den heutigen Kindern spricht, als wären die das defekte Endglied in einer Kette ansonsten anständiger Generationen. Klar, Fäuste haben wir ihr nicht in den Magen gerammt. Wir waren brutaler. Haben ihr systematisch ihre Würde genommen. Die Kindheit. Die gute alte Zeit von damals. Sie war in ihrer Gegenwart auch ganz schön fies und dunkel. Es tut mir leid, Kirsten.
Wenn ich so zurückdenke, sehe ich mich dabei, wie ich mir den Schwamm, mit dem diese Miststücke des Mädchens Gesicht wischten, schnappe - und ihn den Peinigern ins Gesicht drücke, bis er ihnen zum Arsch wieder rauskommt. Das sind ganz sicher Phantasien auf Grundlage von Gewissensbissen. Und wer steckt mir den Schwamm in die Fresse? Ich sehe mich ferner in der Schulbank sitzen und Kreidereste von Stirn und Nase kratzen. Die Lehrerin kommt zurück ins Zimmer, sieht es, wie sie es bei Kirsten immer gesehen haben muss, und fährt ohne darauf einzugehen mit dem Unterricht fort. Lehrer waren damals auch schon gerne ignorante Ichlinge.
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