Wir sind nicht das Ziel

In den Nachwehen des Terroranschlags auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo publizieren zahlreiche Medien-Outlets in aller Welt Solidaritätsbekundungen. Einige drucken die Karikaturen direkt nach, und der Slogan "Je Suis Charlie" hat sofort Meme-Status erreicht. Alle diese Beiträge sind wichtig, und sie stellen sich auch sofort gegen den Impuls der rechten Populisten, den Anschlag für die Verbreitung ihres Unsinns zu verwenden (in Frankreich fordert Marie Le Pen etwa gerade die Wiedereinführung der Todesstrafe). Zu unserer Selbstvergewisserung sind sie notwendig, und im besten Fall werden wir auf den Anschlag reagieren wie Norwegen auf den des Anders Breivik. Wir sollten dabei aber eine wichtige Tatsache nicht verkennen: wir und unsere Werte waren gar nicht das vorrangige Ziel dieses Anschlags.
Terrororganisationen verhalten sich im Grundsatz wie jede andere Organisation auch: ihr oberstes Ziel ist ihr eigener Selbsterhalt. Um diesen zu gewährleisten brauchen sie einen stetigen Nachschub an Rekruten. Frankreich ist für islamistische Botschaften sehr unempfänglich: von den fünf Millionen Muslimen des Landes geben in Umfragen nur zwei Millionen an, überhaupt religiös zu sein, und der Prozentsatz derer, die tatsächlich für Radikalismus empfänglich ist, dürfte verschwindend gering sein. Der Anschlag dient daher weniger dem Versuch, den Westen zu treffen und seine Werte zu zerstören, sondern vielmehr, ihn zu einer Überreaktion zu zwingen und dadurch die eigene Klientel zu vergrößern.
Die Wirkungsweise dieser Dynamik lässt sich gut an zwei Beispielen verfolgen: der nach 9/11 ausgerufene "War on Terror" zwang Muslime allerorten zu einer klaren Standortbenennung, wo sie sich vielleicht vorher lieber herausgehalten hätten. Besonders im Mittleren Osten und in Afghanistan und Pakistan schuf er zudem ideale Bedingungen für die Rekrutierung von neuen Mitgliedern, wenngleich diese Wette für Al-Qaida nicht wirklich aufging: die Organisation wurde im "War on Terror" weitgehend zerstört. Auch die Hamas operiert in einer solchen Logik.
Ein weiteres und noch wesentlich passgenaueres Beispiel bietet der Irak, und zwar nicht die Beteiligung der Amerikaner, sondern die internen Streitigkeiten zwischen Sunniten und Schiiten, deren Eskalation wir an der ISIS gerade beispielhaft betrachten können. Wie kann eine extremistische Gruppierung wie die ISIS überhaupt zehntausende Kämpfer rekrutieren? Indem sie vorher die Gesellschaft polarisiert und radikalisiert. Sunnitische Terrorgruppen haben ein Jahrzehnt Erfahrung damit, die Schiiten durch Anschläge auf ihre Moscheen und andere Heilige Orte zu brutalen Gegenmaßnahmen zu provozieren. Diese Gegenmaßnahmen treffen dann die sunnitische Bevölkerung und zwingen diese zur Solidarisierung mit den Gegnern ihrer Gegner.
Tilo Jung stellt daher die richtige Frage:
Was macht diesen Anschlag, diesen Überfall zu einem "Terroranschlag"? — Tilo Jung (@TiloJung) 7. Januar 2015
Es war ein Terroranschlag.Der Terror richtet sich nur nicht gegen unsere eigene westliche Gesellschaft und ihre Werte, wie viele aktuell zu vermuten scheinen. Er richtet sich vielmehr gegen die muslimische Bevölkerung im Westen. Die Hoffnung der Terroristen ist, dass eine Polarisierung stattfindet, eine Polarisierung, wie sie Marie Le Pen bereits erfolgreich betreibt - oder auch die Pegida in Deutschland. Eine solche Polarisierung öffnet neue Rekrutierungspools und Spendenquellen - und die brauchen Terrororganisationen ebenso wie politische Parteien des Westens. Wir dürfen ihnen diesen Gefallen nicht tun. Wir verteidigen daher nicht nur unsere eigenen Werte, wenn wir den Terroristen nicht auf den Leim gehen, sondern wir machen ihnen auch aktiv einen Strich durch die Rechnung.

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