Nicht nur, dass Grass´ angejahrte Werke plötzlich gleich im halben Dutzend in der Verkaufshitparade des Internethändlers Amazon auftauchen. Nein, zahllose Deutsche dichten seit fünf Uhr früh auch zurück: "Und was aber auch noch gesagt werden muß", lässt sich ein unbekannter Dichter hier inspirieren, "Grass drüber" heißt es in einer poetisierenden Reimfassung der krassen grasschen Großklage gegen Israel, selbst Israels Premierminister Benjamin Netanjahu griff zur Feder, um zurückzureimen. Überall güntert es, wie das freiwillige versschmieden unter Jugendlichen inzwischen genannt wird. Eine neue Volksbewegung ruft "Wir sind Grass!" und widmet sich dem Verfassen von Tankas, Rengas und Kasen.
"Doch auch die Feindschaft der anderen
habt ihr erworben,
Ihr seid nicht schuldlos daran,
Dass sie gegen euch sind",
heißt es etwa einem Gedicht des Berliner Schülers Erich Fried, der weiter reimt "Kehrt um! Kehrt um! Die euch Geld oder Waffen geben brauchen euch nur als Söldner gegen die Zukunft!" Mehr noch, Fried kritisiert Israel ganz offen und stellt den Judenstaat nicht nur auf eine Ebene mit dem Iran, sondern mit Nazideutschland: "Ihr habt eure Henker beobachtet und von ihnen den Blitzkrieg gelernt und die wirksamen Grausamkeiten". Auch die FAZ reimt:
dass ein gericht
zum beispiel leberkäs hawaii
wenn es besonders gut gelungen ist
auch ein gedicht
genannt werden kann
sagt schon viel aus
über die unklarheit
und die unwahrheit
des gedichtbegriffs.
was ist ein gedicht,
und was nicht?
Ja, Günter Grass hat es wieder geschafft, aufzufallen indem er Gedichte äußert, die zuvor nicht mit dem Kanzleramt abgestimmt wurden. Gedichte relevant zu machen. Galt Dichtung bis zum Tage vor dem Erscheinen von ""Was gesagt werden muss"" als spleniges Lesevergnügen von jungen Mädchen mit Liebeskummer und als der kommerzielle Alptraum von Verlagen schlechthin, ist es dem kaschubischen Pfeifenraucher über nacht gelungen, Dichtung wieder "trendy" (Stern) zu machen. Verse und Reime, die Grundfragen der normativen Regelpoetik, Sein und Seinsgrund von Dichtung aus ontologischen, erkenntnistheoretischen und logischen Ansätzen - das sind Fragen, die nun jeden brennend interessieren. "Haufenweise" habe er "zustimmende Mails" bekommen, ließ Grass in Fernsehauftritten wissen, zu denen die öffentlichen Rechtfertigungssender ARD und ZDF in einer Neuauflage der vielgesehenen Sendung mit dem damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff geladen hatten. Er schreibe seit jüngster Zeit "über Dinge, über die zu wenig gesprochen wird". Dazu gehöre eben auch die gute alte klassische Dichtkunst, die in Schulen und Familien zunehmend von neumodischem multimedialen Schnickschnack verdrängt werde.
Während der "Spiegel" hier die "störrische Selbstgerechtigkeit eines wichtigen Schriftstellers" wittert, der gerade "vom Schrulligen ins Tragische kippt", sieht der "honorige Nobelpreisträger" mit der "erodierenden Autorität" (alle Zitate "Spiegel) den eigenen Erfolg durchaus kritisch. Der Urheber der unerwarteten Renaissance der rhetorisch bestimmten "Ars versificatoria" scheint erstaunt, verblüfft und vom eigenen erdrutschartigen Erfolg nicht nur positiv überrascht. „Es ist mir aufgefallen, dass in einem demokratischen Land, in dem Pressefreiheit herrscht, eine gewisse Gleichschaltung der Meinung im Vordergrund steht", merkt er zum plötzlichen Hype um die neue gesellschaftliche Rolle der klassischen Dichtung an. Der durchgehende Tenor sei, "sich bloß nicht auf den Inhalt des Gedichtes einzulassen", sondern Formfragen zu diskutieren: Hätte es sich sein "Hassgedicht" besser reimen sollen? Wie gehen die weltpolitische, die geschichtliche und die persönliche Ebene zusammen? welche Rolle spielt Grass´Ex-Chef Heinrich Himmler? Warum taucht das Wort "Autobahn" im Text überhaupt nicht auf?
Grass-Kritiker widersprachen entschieden. Der Dicher, dem es mit seiner Gedichtveröffentlichung kurz vor Ostern gelang, eine bereits fast anderthalb Wochen anhaltende deutschlandweite Diskussion um den Benzinpreis im Alleingang zu beenden, solle wenigsatens zugeben, dass sein "irres Gedicht" (Bild) nirgendwo als "krude" bezeichnet werde.