Die ersten beiden Produktionen von (8:tensions), dem Nachwuchsforum für junge Choreografie von ImpulsTanz, hatten viel Gemeinsames. Maarten Seghers aus Belgien und Elina Pirinen aus Finnland sorgten für Irritation aber auch Momente von Déjà vu.
Maarten Seghers & The Horrible Facts
„Maarten Seghers & The Horrible Facts“ – so betitelt Seghers seine Band, die aus mehreren Mikrofonen, einer lautsprecherbestückten Box und einem langen Brett besteht. „What do you mean, what do you mean and other pleasantries“ nannte sich sein Abend im Schauspielhaus, angesiedelt zwischen Performance, Schauspiel, Konzert und Dada-Aktionismus. Seghers, der bislang schon insgesamt sechs Mal mit der Needcompany am ImpulsTanz-Festival teilgenommen hat, gestaltet die Vorstellung dieses Mal alleine. Sein Solostück beginnt er mit einem Sprung auf die Bühne – sportlich vom Zuschauerraum aus. Bald schon irritieren Störgeräusche, hervorgerufen durch Rückkoppelungen, denen Seghers nur durch gezielte, rhythmische Bewegungen Herr wird. Solange er mit seinem Fuß auf den Boden tippt, ist halbwegs Ruhe. Und so ist er, gezwungen von technischen Unbillen, verdammt, das Publikum in Endlosschleifen mit banalen Popweisheiten zu beglücken. Sisyphos oder Zauberlehrling, getrieben von einer Macht, die ihn die Bühnenbretter dieser Welt heimsuchen lässt, dekliniert er „I am tasteable, you are tasteable, we are tasteable“ oder widmet einen ganzen Block der Amoracia rusticana, der gewöhnlichen Krenwurzel oder, wie sie im Englischen genannte wird horseradish . „Horseradish – why horseradish“ frägt er sich und das Publikum im beständigen zweierrhythmisierten Singsang, Antwort darauf gibt es keine.
Zuvor hat er aus dem Bühnenpodest ein langes Brett herausgelöst, das er sich nicht nur vor den Kopf, sondern seinen ganzen Leib geschnallt hat. Diese selbst auferlegte Behinderung wird er in der ersten Hälfte seiner Performance mit sich schleppen. Sein Erscheinungsbild oszilliert damit zwischen einem Verrücktem, einem Monster und einem Dämon. Aber all diese furchteinflößenden Gestalten, das wird klar, stellen keine Bedrohung dar. Denn die größte Bedrohung ist seine Ansage „I will not stop it!“. Tatsächlich ein Gedanke, der furchteinflößend wirkt. Seghers Spiel mit der Publikumsangst und das Auskosten seiner Bühnenmacht erinnert sehr an die ab den 60er Jahren bekannten Publikumsbeschimpfungen und wirken wie ein Revival derselben. Es ist vor allem das junge Publikum,das sich daran belustigt.Nach seinem unsäglichen Kampf mit dem Brettmonster wechselt er in eine Dialogsituation. Aus der Lautsprecherbox kreiert er ein lebloses Wesen mit erkennbarem Antlitz, doch so viel er auch darauf einredet oder es erschrecken möchte, auch hier bekommt er keine Antwort. Ob die Interaktion, die Seghers mit dem Publikum mehrfach probiert, nur in Wien nicht funktioniert hat, oder ein kalkuliertes, dramaturgisches Element ist, auch das bleibt unaufgelöst.
Die Botschaft, die nach dieser One-man-Rocky-Horror-doch-nicht-picture-Show rüberkommt ist: Derjenige, der sich auf der Bühne befindet, hat die Macht. Zumindest für 60 Minuten. Ob das Publikum ihm dabei ihn in sein absurdes Performancegebilde folgt oder nicht, ist Nebensache. Unwillkürlich fällt einem Brechts Satz aus „Der gute Mensch von Sezuan“ ein: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Und als Kritikerin wundert man sich nicht schlecht über äußerst wohlwollende Meinungen von Kolleginnen und Kollegen.
Elina Pirinen überrascht mit provokanter Freizügigkeit
Elina Pirinen, Nachwuchschoreografin und Tänzerin aus Finnland verfolgt einen ganz ähnlichen Ansatz, wenngleich in einem anderen Setting. In „Personal Symphonic Moment“, das im Odeon mit seinem klassizistischen Bühnenumfeld passend angesiedelt war, benutzt sie die 7. Symphonie von Dimitri Schostakowitsch als Ausgangspunkt für eine verstörende Darbietung, die sie clever in einen jeweils pathetischen Vor- und Abspann einbettet. Nach einer langen, bildlosen Intro, in der das Publikum im dunklen Saal nur der Musik lauschen durfte, setzt sie eine Wolke aus Theaternebel in den Raum. Verheißungsvoll schwebt sie über der Bühne, auf der schließlich Kati Korosua, Katja Sallinen und Elena Pirinen aus dem Dunkel Kontur gewinnen. Statisch, mit zurückgebeugtem Kopf und in der 3. Fußposition, wie sie im klassischen Ballett bezeichnet wird, warten sie im Musikgetöse auf ihren Auftritt. Nachdem sie langsam die Bühnenmitte erschritten haben, zaubern sie kleine, bunte Säckchen aus dem Nichts und ergießen den auf ihre Kostüme farbig abgestimmten Brei über ihren Kopf. Willkommen in Absurdistan.
Während Schostakowitsch Symphonie unerbittlich weiter über die Lautsprecher eingespielt wird, entwickelt sich zwischen Türkis, Rosa und Gelb – so die Farben der Hemden und Hosen – ein zwischenmenschliches Drama, in dem Pirinen deutlich die Oberhand behält. Dabei wird nicht mit entblößten Unterleibern und sexuellen Anspielungen gegeizt. Brüste werden freigelegt und ganz und gar nicht liebevoll behandelt, ein Gesäß auf das Gesicht einer am Boden Liegenden gedrückt oder im ekstatisch-herrischen Rausch auch einmal brutal an den Haaren einer Wehrlosen gezogen. Innerhalb weniger Augenblicke konterkariert Pirinen die anfangs aufgebaute Erwartungshaltung und stellt ihr ein Szenario entgegen, das fern jeglicher pathetischen Romantik angesiedelt ist und konträrer nicht sein könnte.
„Mein Freund hat mich verlassen“, „ich beschäftige mich mit der Leere“, „ich möchte gerne nach St.Petersburg und dort komponieren“ – das sind die drei ausgesprochenen Anliegen der Tänzer- und Performerinnen. Biografische Schnipsel ganz im Sinn der Postmoderne, die große Erzählstränge verbietet. Dieser Vorgabe bleibt das Trio auch treu. In eingestreuten Versuchen, so etwas wie ein tänzerisches Vokabular aufzubauen, wird deutlich: Klassisches Ballett war gestern. Eine Form, die sich nur mehr rudimentär in den Körpern findet und nur mehr in Zuckungen oder misslungenen Sprüngen, die unweigerlich in hartem Fall auf dem Boden enden müssen, vorhanden sind. Was aber ist es, dass diese Form des Tanzes ersetzt? Kurze Schrittkombinationen aus dem zeitgenössischen Repertoire funktionieren schon ein wenig besser, können sich aber dennoch nicht entfalten. Über, oder besser, unter allem steht das Leben mit seinen tiefen Abgründen. Wut und Zorn, die sich in Zerstörung manifestieren, beherrschen das Geschehen über lange Strecken. Dafür muss schon einmal die erste Reihe als Opfer herhalten, auf die rosa Schaum aus der Dose gespritzt wird, der sich zum Glück verhärtet von den Kleidern lösen lässt. Da fliegen Requisiten oder Eiswürfel herum, da landet wutverspritztes Joghurt auf so manchem Besucherbein. Schön, dass die Drei darüber anschließend in gehörigem Abstand zum Publikum lachen können.
Als im vierten Satz der Symphonie das Geschehen derart außer Rand und Band geraten ist, dass es keine Steigerung der Aggression mehr gibt, bleibt den jungen Frauen nichts mehr Anderes übrig, als sich in einen sichtbaren Wahnsinn gleiten zu lassen. Verloren liegen sie am Boden, beschmieren sich mit den Überresten von Joghurt und Farbe und nehmen auch nicht jenen Kinderchor war, der aus Volksschulmädchen in schwarzen Kleidern „Der Mond ist aufgegangen“ singt. Eine Reminiszenz an eine Zeit, in der die Welt vielleicht noch heil war, wenngleich die schwarzen Kostüme der Kleinen eine andere Sprache sprechen.
Wieder auf den Beinen, formieren sich Korosua, Sallinen und Pirinen zum Abschlussbild und drehen sich, mit ausgestreckten Armen, nun langsam um ihre eigene Achse. Eine Reminiszenz an etwas, das sich Tanz nennt, blitzt hier noch einmal auf. Etwas, das verloren zu sein scheint, nur mehr in einer Erinnerung vorhanden ist und dennoch in diesen wenigen Augenblicken all das, was zuvor in einer Stunde abgehandelt wurde, verblassen lässt. „Personal Symphonic Moment“ legt, wie auch die Performance von Seghers, den Finger in eine theatralische Wunde. Der Raum, die Bühne ist eigentlich das Letzte, was von ihrer historischen Verwendung als Ort der Verhandlung von Dramen aller Art noch übrig bleibt. Der Inhalt selbst jedoch hat sich losgelöst von jeglichem geschichtlichen Vorbild. Er erschöpft sich in der Erzählung des vermeintlich persönlich Erlebten, in der Zur-Schau-Stellung von körperlich ausgelebten Emotionen und richtet sich streckenweise gegen das Publikum selbst. Das allerdings ist eine Attitüde, die bereits seit einigen Jahrzehnten durchdekliniert wurde. Vielleicht bleibt deswegen auch der große Aufschrei bei den Kulturkonsumierenden aus. Dennoch überzeugt Pirinen in der Radikalität, die dieses Mal nicht von Männern wie Bauer oder Handke ausgeht, sondern von drei jungen, hübschen, zarten Damen. In unmittelbarer Nachfolge von Pussy Riot richtet sich ihre Rebellion gegen ein künstlerisches Genre, das über Jahrhunderte hinweg von männlichen Ideen besetzt war. Es ist eine Auflehnung, die auch nicht vor dem eigenen Körper und der eigenen Geisteszerstörung Halt macht. Darin liegt vielleicht der Unterschied. Liest man den versöhnlichen Schluss als Katharsis, dann darf man auf Kommendes der jungen Finnin sehr gespannt sein, denn eigentlich sollte sie mit ihrer nächsten Produktion die Frage „Was kommt nun?“ beantworten. Oder zumindest beginnen, sich auf die Suche nach einer Antwort zu machen. Ganz im Sinne der Postmoderne.